Nach Amoklauf in Graz: Wie Medien berichten sollten
Wie können Medien verantwortungsvoll über Amokläufe berichten, ohne Nachahmungseffekte zu fördern oder zur Bühne für den Täter zu werden? Diese Frage stellt sich nach dem Amoklauf in einer Grazer Schule. Über ethische Leitlinien in der Berichterstattung spricht Matthias Karmasin, Professor am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaften der Universität Klagenfurt und am Institut für Vergleichende Medien- und Kommunikationswissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Interview.
Zwischen Aufklärung und Sensationsfallen: Amokläufe fordern Medien heraus, verantwortungsvoll zu berichten – ohne Täter zu glorifizieren oder Nachahmungseffekte zu provozieren. Die emotionale Betroffenheit und die schlechte Nachrichtenlage bei ausgeprägtem öffentlichen Interesse machen eine besonders sensible und verantwortungsvolle Berichterstattung notwendig.
Matthias Karmasin, Kommunikationsforscher und Direktor des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Klagenfurt, gibt Einblicke, wie Medien dieser Verantwortung gerecht werden können, welche Fehler es zu vermeiden gilt und welche Rolle soziale Medien dabei spielen.
Welche besondere Verantwortung tragen Medien bei der Berichterstattung über Amokläufe, und worin unterscheidet sich diese von der Berichterstattung über andere Gewalttaten?
Grundsätzlich unterscheidet sich die medienethische und -rechtliche Verantwortung bei Amokläufen nicht wesentlich von der Berichterstattung über andere Gewaltverbrechen. Die Punkte 5, 6 und 7 des Ehrenkodex – also Persönlichkeitsschutz sowie Schutz vor Pauschalverurteilung und Diskriminierung – gelten auch hier. Was bei Amokläufen wie in Graz hinzukommt, ist die besondere Komplexität: Es gibt in der Regel viele Opfer, eine sehr hohe emotionale Betroffenheit und gleichzeitig eine schlechte Nachrichtenlage bei ausgeprägtem öffentlichen Interesse. Das macht die Berichterstattung zu einer besonderen Herausforderung.
Wie lässt sich sachlich über einen Amoklauf berichten, ohne Nachahmungseffekte zu fördern oder ungewollt instrumentalisiert zu werden?
Wichtig ist vor allem, dass die Tat weder glorifiziert noch mit überzogenem Verständnis dargestellt wird. Auch voyeuristische oder sensationsheischende Elemente sollten vermieden werden. Medien sollten sich strikt an die Anweisungen der Ermittlungsbehörden halten – insbesondere an die der Polizei – und nur Informationen veröffentlichen, die den Ermittlungen nicht schaden. Auch wenn der Täter nicht mehr lebt, gilt es, sich an diese Vorgaben zu halten, vor allem was das Teilen von Videos und Fotos anbelangt.
Viele fordern, bei Amokläufen auf die Nennung von Namen und Bildern der Täter zu verzichten. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?
Karmasin: Ich halte das für sehr sinnvoll. Außerdem beugt es Verwechslungen vor. Die Vorfälle in Graz haben tragischerweise gezeigt, dass zufällige Namensgleichheiten dazu führen können, dass Unschuldige mit Drohungen oder Gewaltfantasien konfrontiert werden. Der Name des Täters hat keinerlei Bedeutung für das Verständnis oder die Einordnung der Tat – zumal, wenn er nicht mehr lebt.
Was sind denn darüber hinaus die größten Fehler, die Medien bei der Berichterstattung über Amokläufe machen können, und wie lassen sie sich vermeiden?
Ein zentraler Punkt ist § 7a des Mediengesetzes, der sehr klare Vorgaben macht, insbesondere in Bezug auf den Schutz von Opfern und Angehörigen. Auch der Ehrenkodex der österreichischen Presse liefert hier klare Richtlinien. Diese Maßstäbe sollten Grundlage jeder redaktionellen Arbeit sein – vor allem in Fällen, in denen die Nachrichtenlage unklar ist und die Monstrosität der Tat einen gewissen Berichterstattungsdruck erzeugt. Vorsicht und Gelassenheit sind geboten. Persönlichkeitsrechte dürfen nicht verletzt werden, nur um Reichweite zu generieren. Solches Verhalten ist sowohl medienethisch als auch rechtlich klar abzulehnen – und es laufen ja aktuell bereits Verfahren beim österreichischen Presserat zu solchen Verfehlungen.
Welche Rolle spielen soziale Medien und Live-Ticker bei Amokläufen, und wie können klassische Redaktionen verantwortungsvoll mit dieser Geschwindigkeit und Öffentlichkeit umgehen?
Die Rolle der sozialen Medien ist auch in diesem Zusammenhang sehr problematisch. Das zeigen viele der kursierenden Bilder und Videos. Besonders gefährlich wird es, wenn Namensgleichheiten dazu führen, dass Menschen digital an den Pranger gestellt werden oder wenn Falschinformationen und Spekulationen verbreitet werden. Journalistisch arbeitende Redaktionen sollten dem entgegenwirken, indem sie sorgfältig recherchieren, sich auf gesicherte Fakten stützen und diese auch erst dann veröffentlichen, wenn sie gesichert sind – und ihre internen Qualitätssicherungsmechanismen ernst nehmen. Natürlich lassen sich einzelne Fehlentwicklungen nie ganz verhindern, aber Medien, die journalistischen Anspruch erheben, müssen sich diesen Standards verpflichten.
Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit Medien auch in der Berichterstattung über Amokläufe zur gesellschaftlichen Aufklärung und Deeskalation beitragen können?
Medien sollen verantwortungsvoll agieren, also gesichertes Wissen vermitteln, Persönlichkeitsrechte wahren, die Ereignisse kommentieren, einordnen, der Trauer Raum geben und auch eine Diskussion über Prävention ermöglichen. Das ist tatsächlich eine Aufgabe, die nicht alle Medien gleichermaßen gut bewältigt haben. Was sie wohl nicht tun sollten: Clickbait, „Witwenschütteln“, Videos ohne Informationsgehalt aber mit hohem Voyeurismus verbreiten, spekulieren und vermuten und gegen medienethische oder rechtliche Vorgaben verstoßen, nur weil es Aufmerksamkeit bringt. Es ist auch notwendig, darüber nachzudenken, wie die Medienförderung und Inseratenvergabe der öffentlichen Hand zukünftig gestaltet wird – und wie man mit Strafen bei Verstößen umgeht – auch und gerade im Hinblick auf das Agieren von Medien in Krisen. Aktuell gilt das auch im Hinblick auf Medien, die gezielt ethische und rechtliche Grenzen überschreiten, um Aufmerksamkeit zu generieren.
Wie könnte mit Verstößen gegen Recht und Medienethik umgegangen werden?
Bei rechtlichen Grenzen sind die Gerichte bzw. die Aufsichtsbehörden gefordert.
Bei Verstößen gegen den Ehrenkodex der Presse sollte das Prinzip der regulierten Selbstregulierung gestärkt werden. Anders formuliert: Der Staat hat nicht zu entscheiden, was integrer und verantwortungsvoller Umgang mit Öffentlichkeit ist – oder was die Verantwortung des Journalismus ist. Das weiß die Branche selbst schon sehr gut. Aber der Staat soll dafür sorgen, dass alle daran gebunden sind und dass die Organe der Selbstregulierung hinreichend Biss bekommen.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen verantwortungsvollem Journalismus und Meinungsmache – und wie kann die Öffentlichkeit diesen Unterschied erkennen?
Es ist wichtig, zwischen Medien mit einem professionellen journalistischen Anspruch und sogenannten Pseudo-Medien zu unterscheiden. Ich verwende bewusst nicht den Begriff „Alternativmedien“, weil diese ja keine Alternative bieten – außer eine zur Wahrheit und weniger pathetisch eine zu Fakten und Verantwortung. Es sind Propagandamedien, die besonders anfällig dafür sind, auf solche Themen aufzuspringen, um Aufmerksamkeit und Klicks zu generieren. Anders formuliert und leider auch in diesem Kontext: Freiheit kann sinnvoll nur mit Verantwortung gelebt werden – das gilt wohl auch für die Freiheit der Meinungsäußerung. Also wäre eine wesentliche Differenz die Frage nach der Verantwortung und wie diese realisiert wird, etwa die Verpflichtung auf den Ehrenkodex, Ethik-Richtlinien in der Redaktion, Teilnahme an Selbstkontrolle, Mitgliedschaft in professionellen Organisationen, Aus- und Weiterbildung in diesem Kontext etc.
Matthias Karmasin ist Direktor des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und Professor am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt. Er ist zudem Mitglied der ÖAW.
Das Interview wurde durch die Redaktion der ÖAW erstellt und unter Nach Amoklauf in Graz: Wie Medien berichten sollten veröffentlicht.