„Mit dem Internet haben wir neue Erzählbühnen.“

Solange es die Menschheit gibt, werden Geschichten erzählt. Während das Publikum bis in die 2000er Jahre eher beschränkt war, steht mit dem Internet nun quasi jeder und jedem die ganze Welt als potenzielle Zuhörer*innen zur Verfügung. Christina Schachtner, emeritierte Professorin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt, interessiert sich in ihrer Forschung für das „Narrative Subjekt“. Ihr gleichnamiges Buch ist nun in englischer Sprache open access erschienen. Im Interview sprechen wir mit ihr über die Tragödien und Komödien, die im virtuellen Raum aufgeführt werden.

Woher rührt Ihr Forschungsinteresse am erzählenden Menschen im Internet?

Meiner Publikation geht eine Studie voraus, bei der wir die digitalen Praktiken von jungen Menschen aus verschiedenen Kontinenten untersucht haben[1]. Nachdem diese Studie abgeschlossen war, blieb bei mir das Gefühl, dass in diesen Interviews noch mehr steckt. Ich habe bei einer Sekundärauswertung entdeckt, dass es Geschichten sind, die in diesen Interviews stecken. Sie haben alle einen bestimmten Fokus. Um dieses Schlüsselthema herum gruppieren sich die erzählten Szenen und Episoden unserer Interviewpartner*innen.

Ist diesen Schlüsselthemen etwas gemeinsam?

Ich identifizierte sieben verschiedene Narrationstypen, denen sich jeweils eine Reihe von Geschichten zuordnen lassen. Beispielsweise ist die Vernetzung ein solcher Typus. Im Zentrum dieser Geschichten steht der Wunsch, in Verbindung mit anderen zu sein, dazu zu gehören, Anerkennung zu finden. Ein Netzuser hat sich einmal vor dem Laptop liegend portraitiert und gesagt: „Ich liege auf Beziehungslauer.“ Er wartet, dass ihn jemand kontaktiert. Passiert das nicht, nehme er sich „die Angel Facebook“; mit dieser hole er sich jemanden aus dem Teich heraus.

Vor 30 Jahren gab es die Möglichkeit, in dieser Weise auf der Lauer zu liegen, noch nicht. Ist das, was sie beobachten, ein völlig neues Phänomen?

Geschichten werden erzählt, solange es die Menschheit gibt. Schon Ludwig Wittgenstein hat festgestellt, dass das Erzählen so wichtig wie das Essen, das Gehen und das Spielen ist.

Warum?

Wir müssen die Welt, in der wir leben, verstehen und interpretieren, um handlungsfähig zu sein. Die Geschichten sind der Versuch zu verstehen, uns selbst, andere, die Welt. Schon die Bibel ist reich an Geschichten, die religiöse Botschaften transportieren. Mit dem Internet haben wir neue Erzählbühnen, die die dort erzählten Geschichten nicht unberührt lassen.

Was ist so neu an der Erzählbühne Internet?

Heute kann jeder und jede, der oder die über einen Computer, sprachliche Kompetenzen und ökonomische Ressourcen verfügt, sich zu diesen Erzählbühnen Zugang verschaffen. Wir können selbst entscheiden, ob wir Geschichten erzählen wollen und müssen auf keine Einladung z.B. eines Fernsehsenders warten. Wir haben im Netz viele Erzählinstrumente wie Wort, Bild, Video, Sound zur Verfügung. Das Internet ist ein grenzüberschreitendes Medium, wir sind also nicht nur auf den Nahraum verwiesen. Wenn wir erzählen, kann man uns im Prinzip weltweit lesen, hören und sehen. Das unterstreicht die eigene Bedeutung. Man kann zu einer Netzberühmtheit werden oder jedenfalls davon träumen.

Erzählen wir online eher vom Guten oder Schlechten beziehungsweise: Sind das Komödien oder Tragödien, die wir im Internet aufführen?

Wenn wir erzählen, wollen wir Anerkennung finden und akzeptiert zu werden. Deshalb erzählen wir häufig Geschichten, in denen wir angenommenen Erfolgs- oder Schönheitskriterien entsprechen. Das führt auch zur Reproduktion von Geschlechterstereotypen. Frauen stellen sich häufig als schön und begehrenswert dar, während Männer eher den Helden mimen, der alles meistert und muskelstark ist.

Hat das Negative auch einen Platz in der virtuellen Welt?

Es gibt auch Geschichten, in denen von Problemen und Krankheiten erzählt wird. Es geht darum, Tipps von anderen zu erhalten, Leidensgenoss*innen zu finden oder auch auszudrücken, was einen bedrückt. Bei all diesen Geschichten kann man immer wieder feststellen, dass demonstriert werden soll, wie man schwierige Situationen letztlich gemeistert hat. Dies entspricht dem Anspruch in unserer Gesellschaft erfolgreich zu sein. Diejenigen, die von überwundenen Krisen erzählen, wollen oft Vorbilder für jene sein, die sich gerade in schwierigen Lebenssituationen befinden.

In politisch und gesellschaftlich bewegten Zeiten formieren sich schnell Hashtags, die das Gefühl von Zusammengehörigkeit suggerieren. Welche Rolle spielt das Gemeinsame?

Die Darstellungen haben einerseits etwas Egozentrisches, zugleich aber auch etwas Gemeinsames. Unsere Geschichten sind in einer bestimmten Gesellschaft angesiedelt, die momentan einen Wandel erlebt. Sie sind eine Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen, weshalb ich sie narrative Zeitsignaturen genannt habe. Ein Beispiel sind die Selbstinszenierungsnarrationen. In der Gegenwartsgesellschaft gilt: Das Individuum muss bestechen, herausstechen, besser sein, sich in die Arena der Sichtbarkeit hineinkämpfen. Dem sind wir alle unterworfen. Gleichzeitig verlieren viele von uns durch Mobilität, die durch Bildung, Beruf oder Migration nötig wird, ihre tradierten sozialen Netze wie Familie und Freund*innen. Weil wir soziale Wesen sind, können wir das aber nicht zulassen. So finden sich neben den eher egozentrischen Selbstinszenierungsnarrationen auch die schon erwähnten Vernetzungsnarrationen, die Versuche der Gemeinschaftsbildung dokumentieren, etwa Fotoblogs, an denen sich Blogger*innen aus verschiedenen Teilen der Welt beteiligen, wie ein Blogger aus den Vereinigten Emiraten schilderte.

Sind die Geschichten global dieselben?

Nein, sie sind stark von der jeweiligen Gesellschaft geprägt. Wir haben beispielsweise auch arabische Netzuser*innen interviewt, bei denen die Selbstinszenierung keine Rolle spielte. Sie gingen vor allem mit politisch gefärbten Geschichten an die Öffentlichkeit, bei denen es in der Zeit des Arabischen Frühlings um Aufbruch und Ausbruch ging.

Welche Geschichten sind momentan bei uns auf der Agenda?

Geschichten verändern sich, passend zu dem, mit dem wir gesellschaftlich konfrontiert sind. Momentan kursieren in den sozialen Netzwerken Geschichten, die sich auf die Pandemie und den Lockdown beziehen. Darunter sind vermehrt Narrationen, die die Pandemie leugnen oder von den vermeintlich wahren Quellen der Pandemie erzählen wie dunkle Mächte, bestimmte wirtschaftliche Interessen oder einzelne Personen wie Bill Gates.  Solche Verschwörungsnarrationen können verfangen, wie der Psychoanalytiker Martin Altmeyer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung  geschrieben hat, weil sie die Angst vor einer bedrohlichen Realität ansprechen. Die innere Unruhe kann gebannt werden, wenn klar zu sein scheint, woher die Gefahr wirklich kommt und benannt werden kann. Wo Gefahr ist, wünscht man sich Rettung. Verschwörungsnarrationen dienen ihren Erfinder*innen  zur Selbstinszenierung und den Rezipient*innen als Abwehrsystem.

Welche Rolle spielt das Stilmittel der Übertreibung?

Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit muss ich vieles noch strahlender, krasser, glitzernder darstellen, um aus den Millionen von Erzähler*innen herauszustechen. Viele bemühen sich sehr intensiv um das beste Bild oder die beste Geschichte, beispielsweise wenn ein Instagram-Boyfriend stundenlang den Fotografen geben muss, bis ein Post im Kasten ist. Der Online-Auftritt bedeutet richtige Arbeit und das zuweilen 24 Stunden lang, wie uns ein Blogger erzählte.

Welchen weiteren Forschungsfragen wollen Sie sich nun zuwenden?

Ich habe mich nun dem Thema „Migration/transnationales Leben und Medien“ zugewandt. Dazu habe ich rund 40 Interviews mit Menschen geführt, die aus verschiedenen Ländern nach Deutschland und Österreich eingewandert sind, überwiegend nicht als Flüchtlinge, sondern aus Bildungs-, Beziehungs- und Arbeitsgründen. Das Erzählen der eigenen Geschichte spielt eine wichtige Rolle für die Verarbeitung von Erfahrungen und als Zugang zur neuen Umgebung. Es erfolgt auch in Form von Gedichten, Musik, Theater, Filmen, die Migrant*innen schaffen. Dabei entstehen hybride Klang- und Erfahrungswelten durch die Kombination von Klängen und Rhythmen verschiedener Musikrichtungen aus verschiedenen geografischen Räumen oder von Wortbildern, die Eindrücke aus dem Herkunfts- und Migrationsland miteinander verknüpfen. Digital gestützte Narrationen dienen dazu, familiale Netze aufrechtzuerhalten und einen neuen Typus von Familie entstehen zu lassen: die Weltfamilie.

[1] Die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen dieser Studie waren Nicole Duller, Katja Langeland, Katja Ošljak, Heidrun Stückler.

Zum aktuellen Buch



This open access book considers the stories of adolescents and young adults from different regions of the world who use digital media as instruments and stages for storytelling, or who make themselves the subject of storytelling. These narratives discuss interconnectedness, self-staging, and managing boundaries. From the perspective of media and cultural research, they can be read as responses to the challenges of contemporary society. Providing empirical evidence and thought-provoking explanations, this book will be useful to students and scholars who wish to uncover how ongoing processes of cultural transformation are reflected in the thoughts and feelings of the internet generation.

Schachtner, Christina (2020): The Narrative Subject. Storytelling in the Age of the Internet. Palgrave Macmillan, open access, https://link.springer.com/book/10.1007%2F978-3-030-51189-0

Die Buchpublikation wurde vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (577-Z32), der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Klagenfurt und der Publikationsförderung der Universität Klagenfurt unterstützt.

Zur Person



Christina Schachtner ist emeritierte Professorin für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Digitale Medien an der Universität Klagenfurt. Sie studierte an der LMU München und war dort unter anderem als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Ihre erste Professur trat sie an der Universität Marburg an. Im Jahre 2003/04 folgte sie einem Ruf an das Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Klagenfurt. Christina Schachtner war vielfach international tätig, unter anderem als Gastprofessorin oder -forscherin an der University of California in Berkeley und San Francisco/USA, an der University of Western Sydney/Australien, an der Universidade do Vale do Rio dos Sinos in São Leopoldo/Brasilien, am Massachusetts Institute of Technology/USA, am Goldsmiths, University of London/Großbritannien, an der Shanghai International Studies University/China, an der University of Jyväskyla/Finnland, an der University of Halmstad/Schweden und an der Universität Warschau/Polen. Die deutsche Version ihres Buchs „Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets“ erschien 2016 im transcript-Verlag.