Mit Blick auf Nuancen und Kreativität

Auf die Fragen unserer Zeit finden wir keine einfachen Antworten. Martina Merz, Wissenschaftsforscherin am Institut für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung, plädiert für einen nuancierten, mehrdimensionalen und umfassenden Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart.

Ich sehe mich nicht als Person, die entweder optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft blickt. Meine Haltung würde ich als skeptisch-beobachtend beschreiben. Aus einer gewissen Distanz heraus, aber mit dem Anspruch, mitgestalten zu wollen, lassen sich Entwicklungen der Zeit gut beobachten und einordnen. Ich gehe davon aus, dass man mit Herausforderungen kreativ und aktiv umgehen sollte und dass sich auch in schwierigen Situationen Gestaltungsmöglichkeiten auffinden lassen.

Die Wissenschaften, mit Betonung des Plural, tragen sicher dazu bei, den Problemen der Gegenwart zu begegnen. Allerdings ist der Wissenschaftsbetrieb kein autonomer Akteur, sondern in gesellschaftliche Konstellationen mit zahlreichen anderen Playern – wie der Politik, den Medien, der Wirtschaft – eingebunden. Große Probleme unserer Zeit, wie etwa die Klimakrise, können wir nur als gesamtgesellschaftliche Herausforderungen begreifen, zu deren Lösung wir auch das Handeln vieler Akteure benötigen.

Die moderne Fortschrittsidee geht davon aus, dass Fortschritt mit der Zunahme wissenschaftlichen Wissens und wissenschaftsbasierter Technologieentwicklung verbunden ist. Wir beobachten immer wieder, dass nach technischen Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme gerufen wird. Wir Menschen hätten uns dann sozial, kulturell und politisch an das technisch Gegebene anzupassen. Empirische Studien der Wissenschafts- und Technikforschung zeigen allerdings, dass solche rein technischen Lösungsversuche nicht funktionieren. In der Regel ergeben sich dort, wo dies angestrebt wird, vorher nicht bedachte Effekte. Eine Analogie: Wenn man einen Stadtteil verkehrsberuhigen möchte, reicht es nicht, die am stärksten befahrene Straße zu sperren. Der Verkehr wird sich auf die Umgebung verlagern. Entsprechend müssen wir die Probleme unserer Zeit umfassender und mehrdimensional betrachten, um solche unerwünschten Effekte zu verhindern.

„Es braucht auch offene Formate, die dazu anregen, experimentierfreudig und abseits vom Mainstream zu forschen.“ (Martina Merz)

In einer Gesellschaft, in der nach schnellen Lösungen gerufen wird, sind Orte der andauernden Reflexion auf komplexe Sachverhalte umso bedeutsamer. Universitäten sind solche Orte. Wir müssen aber auch die Rahmenbedingungen für Forschung im Blick behalten. Wir brauchen eine möglichst breite Vielfalt an Fördermöglichkeiten: Unterstützt darf nicht nur werden, was sich rasch ökonomisch verwerten lässt oder aktuell auf der politischen Agenda steht. Es braucht auch offene Formate, die dazu anregen, experimentierfreudig und abseits vom Mainstream zu forschen. Probleme in ihrer Komplexität zu analysieren, neue oder zukünftige Problemfelder zu identifizieren – darin liegt eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft. Wir müssen uns auch fragen, ob Hochschulen heute die richtigen Akzente setzen, um originelle Arbeit zu fördern. Erhalten junge Menschen heute nicht eher den Eindruck, dass eine akademische Karriere es erfordert, schnell publizierbare Ergebnisse zu produzieren und Themen entsprechend zu wählen?

Während meines Studiums der Physik hatte ich nicht das Ziel, Professorin zu werden. Ich habe danach in den Sozialwissenschaften noch einmal neu begonnen. Zu dieser Zeit waren wir unglaublich schlecht informiert. Man kann auch sagen, wir waren privilegiert, uns über Laufbahnen relativ wenig Gedanken zu machen. Heute sehen wir, dass junge Menschen an Universitäten wesentlich strukturierter an diese Fragen herangehen. Auch die Gestaltung unserer Studien hat sich – nicht zuletzt aufgrund des Bologna-Prozesses – stark verändert. Wenn es mir gelingt, meinen Studierenden die Freude an Wissenserwerb und den lustvollen Umgang mit Wissen weiterzugeben, bin ich zufrieden. Als Universitäten sollten wir uns nicht primär als Bereitsteller von qualifizierten Arbeitskräften und Produzenten von Diplomen begreifen. Äußerst wichtig ist es, die Freude an kreativen Prozessen und am ergebnisoffenen Denken und Arbeiten zu vermitteln, auch und ganz besonders denen, die nicht in der Wissenschaft bleiben werden. In den Freiräumen der Forschung, der Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen und sich neue Problembereiche zu erarbeiten, liegt das Besondere von Universitäten. Diese Möglichkeiten bringen nicht nur den Einzelnen, sondern auch uns als Gesellschaft voran.

für ad astra: Romy Müller