„Medien sind die ersten Adressaten von Terrorereignissen“

Wenn Medien über Terroranschläge berichten, wandeln sie auf einem schmalen Grat. Wie Krisenkommunikation funktionieren kann, erklärt der Medienwissenschaftler Dennis Lichtenstein, der am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Klagenfurt forscht.

Nach dem Terror: Welche Verantwortung kommt jetzt den Medien in der Verarbeitung des Terroranschlags von Wien zu?

Dennis Lichtenstein: Medien haben hier ganz zentrale gesellschaftliche Funktionen. Zum einen die Öffentlichkeitsfunktion der Medien, die mit Information und mit Kontrolle der Politik einhergeht. Also zu recherchieren, inwieweit hier Versäumnisse in der Justiz, im Innenministerium vorliegen.

Und zum anderen die Bereiche der Konfliktkommunikation und der Identitätskonstruktion, die auch eine ganz starke mediale Basis haben. Gelingt es uns jetzt, den Konflikt nicht als einen zwischen Christen und Muslimen aufzuladen und gesellschaftliche Spaltung zu vermeiden? Und: Wie konstruieren wir uns und unsere gesellschaftlichen Werte im Nachgang des Terrors? Spannend wird, welches Narrativ von der Krise insgesamt konstruiert wird.

Wie meinen Sie das?

Lichtenstein: Die Ereignisse vom 2. November werden bereits als ein Anschlag auf die freiheitliche Gesellschaft erzählt. Andere Deutungen, die mehr Sicherheit und damit Einschränkung von Freiheit fordern oder die Bevölkerung spalten, sind aber auch möglich. In der Kommunikation wird es wichtig sein, den Freiheitsgedanken weiter zu stärken und sich immer wieder darauf zu berufen.

Medien sind hier eine wichtige Arena, in der auch Politiker*innen und andere Akteure vor einem breiten Publikum ihre Botschaften platzieren und auf einander reagieren können. Erst in diesem kollektiven Aushandlungsprozeß werden Identitäten konstruiert, verfestigt oder auch ein Stück weit verändert. Auch der Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit wird in dieser Arena permanent verhandelt.

Die Berichterstattung von Boulevardmedien sorgte für Kritik, weil sie Gewaltbilder in Endlosschleife zeigten. Was sind die gängigsten Fehler bei der medialen Krisenkommunikation?

Lichtenstein: Was nicht passieren darf: Dem Täter eine große Bühne zu geben und ihn über die mediale Aufmerksamkeit zur Heldenfigur aufzubauen. Das führt im schlimmsten Fall zu Nachahmungstätern. Wir kennen dieses Phänomen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001: Terrorereignisse sind Medienereignisse. Das sollen sie aus Täterperspektive auch sein. Durch die mediale Verbreitung wird die Wirkung des Anschlags noch potenziert. Das ist auch die größte Gefahr: Dass die Angst in der Gesellschaft ankommt. Ebenso wie der Hass auf eine Bevölkerungsgruppe. Genau darauf haben es die Terroristen angelegt.

Die Hauptrolle spielen also die Medien?

Lichtenstein: Die Medien sind die ersten Adressaten von Terrorereignissen. Darum ist es auch wichtig, dass wir auf unsere kommunikative Infrastruktur aufpassen. Denn es geht hier nicht nur um Information, sondern auch um Public Value, also den gesellschaftlichen Mehrwert einer Organisation. Und hier sehen wir den Unterschied zwischen öffentlich-rechtlichen und Boulevardmedien, wie Ö24-TV, wo diese Gewaltbilder, also jene Momente, in denen der Täter seinen „Erfolg“ bei dem Anschlag präsentieren kann, wiederholt gezeigt wurden. Das ist auch ein sehr deutlicher Hinweis darauf, dass es wichtig ist, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu stärken – auch im Online-Bereich, wo er medienpolitisch sehr stark eingeschränkt ist und gar nicht die Möglichkeit hat, ein Gegengewicht zum Boulevard zu sein.

Worauf kommt es in der Krisenkommunikation während eines Anschlags an?

Dennis Lichtenstein: Jeder Terroranschlag ist auch für die Medien selbst eine Krisensituation. Zu Beginn gibt es kaum gesichertes Wissen, gleichzeitig muss man kontinuierlich Information liefern – unter hohem Handlungsdruck. Der Grund: Die Zuschauer*innen brauchen das Gefühl, auf dem Laufenden gehalten zu werden, um Ungewissheit zu reduzieren. Zudem müssen die Ereignisse analysiert werden, damit das Publikum Orientierungswissen bekommt. Dazu zählen auch Vergleiche mit ähnlichen Ereignissen in anderen Ländern, damit man die Größenordnung versteht und das Ganze einordnen kann.

Ein weiterer Punkt: Das Wechselspiel zwischen Reporter*innen, die eigentlich noch wenig Neues zu berichten haben, und Expert*innen, die zur Lage befragt werden. Das hat auch etwas Routinehaftes und vermittelt das Gefühl von Kontrolle. Der „Desaster-Marathon“, wie man das in der Krisenkommunikation nennt, ist wie ein Ritual und hilft dabei, das verloren gegangene Normalitätsgefühl zurückzugewinnen.

Welche ethischen Aspekte müssen bei der Echtzeit-Berichterstattung beachtet werden?

Lichtenstein: Aus ethischer und journalistischer Perspektive muss man zumindest den Gegencheck anstellen, also Information nicht ungeprüft verbreiten – auch wenn sich Gerüchte über Social Media mittlerweile wahnsinnig schnell ausbreiten.

Apropos Social Media. Wie kann Qualitätsjournalismus in der Krisenkommunikation mit dem Tempo, das Twitter, Facebook & Co vorgeben, mithalten?

Lichtenstein: Es ist immer eine Gratwanderung. Man kann Informationen und auch Gerüchte, die in der Welt sind, nicht völlig ignorieren. Wenn die Bevölkerung auf Twitter bereits von Geiselnahmen und mehreren Tätern liest, aber im ORF davon keine Rede ist, dann entsteht Unsicherheit. Also das muss man zumindest aufgreifen, selbst wenn es in dem Tenor ist: Wir wissen, über Twitter kursieren diese Mitteilungen, aber wir weisen darauf hin, dass diese Meldung noch nicht bestätigt und ohne Beleg ist.

Und welche Funktion kommt den Medien als Public Watchdog in Krisenzeiten zu?

Lichtenstein: Medien können in Krisenzeiten sowohl eine kritische als auch eine unterstützende Rolle einnehmen. Erstere wäre, sich kritisch gegen die Regierungsmaßnahmen und das Handeln der Exekutive zu stellen, also eigentlich eine angestammte Aufgabe der Medien. Die zweite Funktion hingegen: Das Krisenmanagement zu unterstützen und die Appelle an die Bevölkerung medial zu verstärken. Auch das kann eine normativ wichtige Funktion der Medien sein.

Es ist schwierig abzuwägen, wann die Unterstützung zu viel wird und als unkritische Lautsprecher-Berichterstattung daherkommt. Und umgekehrt, wann die Kritik überbordend und als destruktiv im Krisenmanagement begriffen wird. Das ist eine zentrale Herausforderung für die einzelnen Journalist*innen, die in der Krisenkommunikation tätig sind. Darum sind sie auch nicht zu beneiden.

Das Interview wurde von der ÖAW geführt und auf deren Website veröffentlicht.

 

Zur Person


Dennis Lichtenstein ist seit 2019 Senior Scientist am Institut für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Klagenfurt. Zuvor forschte er u.a. an den Universitäten Augsburg, Friedrichshafen und Düsseldorf sowie an der Hochschule Hannover. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen politische Kommunikation, Krisenkommunikation und Journalism Studies.