Anna Dragaschnig – Vier Blumen vor dem Krieg.

Anna Dragaschnig

Vier Blumen vor dem Krieg

 

Oft fragt man sich, was Blicke sagen wollen. So individuell und doch so monoton. Augen, die einen anschauen, ganz ruhig und verlassen, auf einem alten Foto. Auf einem alten schwarz­ weiß Foto meiner Vorfahren. Irgendwann vor dem zweiten Weltkrieg oder vielleicht schon mittendrin.

Sechs kleine Augenpaare schauen mich an. Sie beobachten mich, starren auf mich, als ob jedes seine eigene Geschichte erzählen möchte. Eine ganz andere und persönliche Geschichte. Ich kann sie nicht hören, ich kenne sie nicht. Niemand kennt die wahren Geschichten und niemand kann sie hören. Sie werden sanft vom Wind getragen, vorbei an den alten Höfen, auf denen sie geboren wurden, auf denen geschuftet wurde, Tag für Tag und Jahr für Jahr.

Manchmal hört man sie pfeifen, manchmal rascheln und doch bleiben sie immer im Geheimen und niemand wird sie je erfahren. Es sind die Erinnerungen der Vergangenheit, die nur vage von Verwandten und Bekannten weitererzählt werden, ganz vage und ganz unpersönlich. Sie werden einsam weitergegeben, denn ihr Herz und ihre Seele sind irgendwo weit weg und eines Tages werden wir sie vielleicht wiederfinden.

Noch immer beobachten mich die Blicke. Immer tiefer schauen sie in mich hinein. Irgendwie müde und irgendwie traurig und doch so liebevoll. Die kleinen Augen der Mutter wirken erschöpft und ihr Gesicht sieht alt aus, ein bisschen faltig, ein bisschen geschwächt und trotzdem trägt sie dieses liebevolle kleine Lächeln auf ihren Lippen. So klein, dass man es kaum sehen kann und doch ist es da, das scheinbar unwichtige kleine Lächeln, das einem das Gefühl von Geborgenheit gibt. Die Mutter trägt ein schönes, dunkles Kleid. Es ist ein besonderes Kleid, das sie bestimmt nicht jeden Tag trägt. Einzig ihre Schuhe erinnern an den Alltag. Sie sind abgenützt und alt, doch das stört nicht. Auf ihrem Schoß sitzt ihre jüngste Tochter, die sie zärtlich im Arm hält. Das kleine Mädchen blickt düster und unter ihren Augenbrauen liegen dunkle Schatten. In ihren Händen hält sie eine Blume. Die erste Blume. Die erste Blume, die dem Bild einen Hauch von Freude und Freiheit und Lieblichkeit verleiht.

Auch die Hände der drei weiteren Kinder zieren Blumen. Schöne Blumen. Schöne, blühende Blumen, die den Kindern ein bisschen Kindlichkeit schenken und den Eltern ein klein wenig Härte aus ihren kalten, ängstlichen Gesichtern nehmen.

So sieht sie mich an, die Familie. So harmonisch, wie der Vater die kleinen Händchen seiner Kinder an sich drückt, als wären diese sein ganzer Stolz, als wären sie sein weiches Herz. Sein weiches Herz hinter einer schützenden Hülle. Sie ist nicht streng, nein. Nur irgendwie hart und doch so harmonisch und doch so lieblich. Als wäre er eins mit den Blumen. Als wären sie alle eins mit den Blumen, ganz tief in ihrem Inneren. Sie können es nur nicht zeigen.

 

Die Familie (meine Urgroßeltern und ihre Kinder) lebte auf einem Bauernhof am Land wo der Vater nebenbei eine kleine Sparkasse führte.

Insgesamt hatten die Eltern sechs Kinder, die alle um 1930 geboren wurden. 1937 starb die Mutter.

Wenige Jahre später, 1942, wurde die Familie ausgesiedelt und kam in ein Arbeitslager.

1945 durfte sie gemeinsam wieder zurück auf ihren Hof. Drei Jahre später starb der Vater.

Heute sind alle Familienmitglieder verstorben.

 

 

Geschichten wurden nur vage weitergegeben. Ganz vage und ganz unpersönlich und doch irgendwie ein bisschen lieblich. So lieblich wie vier Blumen vor dem Krieg.