Paul Keckeis | Foto: aau/Müller

„Literatur bietet ein Tempo und eine Intensität, die im Widerspruch zur Beschleunigung der Gegenwart stehen.“

Paul Keckeis kam an das hiesige Institut für Germanistik, um sich mit den vielen unbekannten Lyrikerinnen und Lyrikern des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen. Mit uns hat er darüber gesprochen, in welchen Formen sich auch heute Lyrisches versteckt und warum er glaubt, dass die Lyrik derzeit eine Konjunktur erlebt.

„Die Lyrik hat, anders als die Prosa, in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren wieder Publikum dazugewonnen“, stellt Paul Keckeis in den Raum. Heute würden wir ihr vielerorts begegnen, wo wir sie gar nicht als Literatur erkennen, in der Popmusik, im Rap, im Poetry Slam. Den Erfolg dieser lyrischen Formen in der Gegenwart erklärt er sich damit, dass sie uns einen schnelleren Zugang zu einem anderen Tempo und einer anderen Intensität bieten können, als dies das normale, aber auch virtuelle Leben kann. Aber auch den Stellenwert dessen, was wir klassisch als Literatur bezeichnen, sieht er im Steigen begriffen: „Ich will hier einen Vergleich versuchen. Seit wir binnen Sekunden den Kapselkaffee durch die Maschine lassen können, scheint es den Gegentrend zu geben, mit viel Hingabe die Bohne zu wählen, den Kaffee selbst zu mahlen und ihn liebevoll händisch zuzubereiten. Vielleicht kann es der Literatur ähnlich ergehen: Während wir allerorten verschiedenste Inhalte virtuell und on demand konsumieren können, gewinnen das andere Tempo und die höhere Intensität der Literatur vielleicht wieder an Attraktivität. Wahrscheinlich ist die Schwelle zu lesen größer geworden. Die, die sich doch darauf einlassen, sind dann vielleicht bereit, mit der Literatur weiter zu gehen.“

Ähnlich wie heute Lyrik in populären Formen Ausdruck findet, war dies auch im 19. Jahrhundert der Fall. Die Lyrik war eine Form der Massenkunst, sowohl produzierend als auch rezipierend. Paul Keckeis führt dazu weiter aus: „Es ging ihr nicht darum, der Verinnerlichung oder Subjektivierung zu dienen, sondern sie hatte den Zweck, Gemeinschaft oder Geselligkeit im Zeichen des Gedichts herzustellen. So sehen wir beispielsweise rund um die Entstehung von Arbeitervereinen viel lyrisches Schaffen und Rezipieren, was nicht zuletzt wichtig für die Entwicklung von Gewerkschaften war.“ Zu dieser Zeit wirkten tausende von Lyrikerinnen und Lyriker. Keckeis sieht dabei die Lyrikanthologie sogar als das zentrale Format für die Expansion des Buchmarkts dieser Zeit. Unter all den Dichterinnen und Dichtern seien zahlreiche Personen, die die Literaturgeschichte kaum erinnert, wie sie überhaupt sträflich vernachlässigend mit diesen Jahrzehnten umzugehen scheint: „In der Literaturgeschichtsschreibung hat man sich angewöhnt, über diese Zeit als eine Phase der Stagnation zu reden. Goethe lag schon zurück, und wie die moderne Lyrik aussehen könnte, wusste man im deutschsprachigen Raum noch nicht.“ Paul Keckeis möchte nun in den folgenden Jahren die Werke dieser Zeit – mit einem gewissen Österreich-Fokus – neu perspektivieren.

Paul Keckeis spricht in einer sehr bedachten, sprachlich gewählten Form über sein Fach und seine Schwerpunkte. Der Habitus, der vielen seiner Disziplin eigen ist, ist unverkennbar. Literaturwissenschaft ist ein hartes Geschäft. Auf diese Karte zu setzen, ist riskant. Um die Bürden und Gefahren einer wissenschaftlichen Karriere, die bei den wenigsten auch zu einer solchen wird, auf sich zu nehmen, muss eine Leidenschaft dahinter stehen: „In der Jugend war es für mich wichtig, dass das Lesen eine Form von Widerstand symbolisiert. Man könnte ja auch viel pragmatischere Dinge tun. Auch später, nach der Schulzeit, wäre es in vielerlei Hinsicht klüger, Jus, Wirtschaft oder Medizin zu studieren. Mich hat das Gegenteil gereizt, nämlich den Verwertungslogiken zu entkommen, wenigstens für das Studium.“ Nach dem Grundstudium in Wien sah er Chancen, im Wissenschaftsbetrieb weiter voranzukommen. Er ging nach England, Zürich, Salzburg, zwischenzeitlich immer wieder Wien. 2016 schloss er seine Dissertation zu „Robert Walsers Gattungen“ ab und erhielt dafür im November dieses Jahres den Jubiläumspreis des Böhlau Verlages Wien, vergeben durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften. Die Arbeit wurde 2016 auch mit dem Wendelin Schmidt-Dengler-Preis der ÖGG (Österreichische Gesellschaft für Germanistik) und 2017 mit dem Literaturpreis der Universität Innsbruck ausgezeichnet, 2018 erschien sie im Wallstein Verlag. Vor kurzem bewarb er sich dann erfolgreich um die Stelle in Klagenfurt, wo, so erzählt er uns, „Publikationen zur Lyrik im 19. Jahrhundert entstanden sind, die mit zu den besten zählen, die es zu diesem Thema gibt“. Paul Keckeis hat keinen Plan B, „was den Druck erhöht, den man wahrscheinlich auch spüren muss, damit man diesen Weg geht.“ Und weiter: „Für die nächsten sechs Jahre muss ich mir um mich zum Glück keine Sorgen machen.“

Auf ein paar Worte mit … Paul Keckeis

Was machen Sie im Büro morgens als erstes?
Kaffeemaschine einschalten

Machen Sie richtig Urlaub? Ohne an die Arbeit zu denken?
Klar doch

Was bringt Sie in Rage?
Schnösel

Und was beruhigt Sie?
Manchmal Radio, manchmal spazieren

Wofür schämen Sie sich?
Manchmal für mich selbst

Wer ist für Sie der „größte“ Wissenschaftler bzw. die größte Wissenschaftlerin der Geschichte und warum?
Das können nur viele sein, ist ja nicht Tennis