Detail from the 30 meter panoramic photograph of the skull cabinet at the Natural History Museum Vienna | Photo by Tal Adler, 2012

Kunst als Geburtshelferin für ein neues Europa

Die Idee von Europa funktioniert nicht mehr. Doch wie lässt sich eine tragfähige neue europäische Idee begründen? Pluralistisch und mit den Mitteln der Kunst, meine Klaus Schönberger. Der Klagenfurter Kulturwissenschaftler leitet das dreijährige Horizon2020-Projekt TRACES mit elf PartnerInnen aus zehn Ländern Europas. ad astra bat ihn zum Interview.

Gerne wird eine gemeinsame Identität Europas beschworen und sein kulturelles Erbe als Einheit dargestellt. Doch zum Cultural Heritage Europas zählen auch viele schreckliche Ereignisse wie Bürgerkriege und Völkermord. Im Zuge der Migrationsbewegungen werden alte Konflikte neu entfacht, und die Bruchlinien in Europa werden offensichtlich. Es braucht eine neue Definition Europas. Herr Schönberger, wie könnte die aussehen?

Die zentrale Idee ist, zu einer Vorstellung von Europa zu kommen, die nicht darauf abzielt, im Gefängnis der Identität aufzugehen, sondern die die Vielheit, Multiperspektivität, Transversalität, also genau die Verschiedenheit zum Kern des europäischen Projekts erklärt. Die Tatsache, dass wir alle verschieden sind, soll nicht als Problem, sondern als konstitutives Moment begriff en werden. In dieser Imagination haben Muslime genauso Platz wie Sinti und Roma. Es zählt das territoriale Miteinander aller derer, die sich auf dem Kontinent bewegen. Wir sprechen dann nicht mehr von einer Identität, sondern von einer europäischen Imagination, in der Konflikte das Europäische mitbegründen.

Welche Rolle spielen dabei alte wie neue Konflikte? In Europa existieren an vielen Orten und auf verschiedenen Ebenen viele Konflikte mit politischer Relevanz. TRACES geht schwierigen Konflikten und ihrer Behandlung nach, also belasteten und traumatisierenden Elementen im Cultural Heritage, die immer wieder zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden. Diese Instrumentalisierung dient ja häufig dazu, gesellschaftliche Spaltungen fortzuschreiben. Wir leugnen diese Konflikte nicht, doch sehen wir in ihnen das Potenzial des Gemeinsamen. Das klingt paradox, ist aber ungemein produktiv.

Was können Konflikte dafür leisten? Konflikte sind normal, und sie sind Ausgangspunkt von unserer Vorstellung einer europäischen Idee. Die Vorstellung einer homogenen Identität negiert den Konflikt und die Interessensgegensätze. Wir behaupten hingegen, dass alle diese Auseinandersetzungen in diese europäische Idee hineingehören. Wir suchen und entwickeln nun Methoden, wie wir diese Konflikte produktiv machen können für so etwas wie eine neue europäische Imagination.

Wie können sie dann ihre spaltende Kraft verlieren? Indem man die Widerstände und Widersprüche ernst nimmt und sie nicht mehr als Gegensatz begreift. Die aufkommende Renationalisierung ist so ein Ausdruck für Konfliktsteigerung, für unterschiedliche Interessen und Antagonismen auf verschiedenster Ebene. Das muss man aushalten und ins Positive wenden. Man muss von einer antagonistischen in eine agonistische Perspektive kommen. Dieses Verständnis einer europäischen Demokratie sieht Widersprüche und Konflikte als normal an und entwickelt Verfahren der Aushandlung. Wichtig dabei ist, dass die Widersprüche und Konflikte bestehen bleiben dürfen, aber die Positionen der Gegenüber als Position anerkannt werden.

Ein mühsamer Prozess. Gibt es schon geglückte Beispiele? Man könnte die Kärntner Konsensgespräche für ein zweisprachiges Kärnten als ein solch agonistisches Vorgehen beschreiben. Die Widersprüche sind bestehen geblieben, aber sie sind eingehegt in einen politischen Prozess, der das Freund-Feind-Denken abzulösen beginnt. Zentral ist, dass auf diese Weise nicht die unterschiedlichen Interessen gegenstandslos werden. Es geht vielmehr darum, Freund-Feind-Beziehungen in eine Gegnerschaft aufzulösen, die die unterschiedlichen Interessen anerkennt und sichtbar macht.

TRACES ist eines der ersten kulturanthropologisch geführten großen Verbundprojekte der EU und die Kunst ein gleichwertiger Partner. Was hat die Gutachter überzeugt? Wir sind wohl deshalb ausgewählt worden, weil wir einen neuen methodischen Ansatz vertreten und insbesondere experimentell vorgehen. Wir setzen in fünf Projekten, den so genannten Creative Co-Productions (CCPs), auf eine umfassende und längerfristige gemeinsame Arbeit zwischen Wissenschaft, Kunst und Vermittlungsinstitutionen. Bisher ist es eher so, dass die KünstlerInnen in ein Museum kommen, eine Intervention machen und das war es dann. Wir aber erproben ein anderes Vorgehen. Dabei müssen die WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen und die Institutionen sich aufeinander einlassen. Die Möglichkeit, drei Jahre zusammenzuarbeiten, ist im Kunstkontext sonst nicht so leicht möglich.

Instrumentalisieren Sie damit nicht die Kunst und deren AkteurInnen? Es ist etwas verzwickter. Ja, bisher instrumentalisieren Kulturerbe-Institutionen KünstlerInnen ähnlich Beratern in Firmen. Wenn die Chefs nicht entscheiden wollen, holen sie sich Unternehmensberater, damit diese dann den Handlungen eine ökonomische Rationalität andichten. Wenn nicht mehr so klar ist, was das kulturelle Erbe ausmacht, dann dient der Einsatz der Kunst der Verschleierung der Ratlosigkeit. Aber es ist auch umgekehrt. Die KünstlerInnen tun in unserem Projekt etwas, was den klassischen Kunstbegriff infrage stellt und den Rahmen des Kunstmarkts überschreitet.

Doch die Kunst liefert selten eindeutige Antworten! Das soll so sein. Wie immer bei Kunst ist es eine Gratwanderung. Es gibt zwei Optionen: Kunst kann andere Zugänge ermöglichen und eine andere Offenheit zu komplexen widersprüchlichen Interessenslagen produzieren. Es kann aber auch in einem schwierigen Sinne ungenau werden. Das ist unsere zentrale Forschungsfrage: Inwiefern und unter welchen Bedingungen kann Kunst zu einer anderen Vermittlung – in einem agonistischen Sinne – von schwierigem Kulturerbe beitragen?

Die EU erwartet sich jedoch konkrete Anleitungen für eine breitere Anwendung. Was ist geplant? Im Rahmen des Projekts wird ein Tool zur praktischen Anwendung im Kontext von Kunst entwickelt. Zentral ist, dass die Uneindeutigkeit der Kunst und die Bearbeitung der Konflikte über künstlerische Interventionen und Zugänge wie Vagheit, Unklarheit und Uneinheitlichkeit nicht als Problem gesehen werden, sondern als produktiver Faktor. Damit verbundene andere Zugänge könnten Fronten auflösen helfen und sie uneindeutig machen. Aus der kunstimmanenten offenen Form ergeben sich viele Interpretationsmöglichkeiten. Damit können starre Interpretationsmuster aufgelöst werden, aber auch die Möglichkeit erwachsen, über Ungenauigkeit genau zu werden. In der Ungenauigkeit besteht die Chance einer öffnenden Kommunikation über problematische Themen.

für ad astra: Barbara Maier

Klaus Schönberger

Geboren 1959, ist seit 2015 Professor für Kulturanthropologie am Institut für Kulturanalyse der AAU. Er studierte in Tübingen, habilitierte sich in Hamburg und lehrte zuletzt an der Zürcher Hochschule der Künste.

Klaus Schönberger|Foto: foto-riccio

Zum Projekt

Das vom EU-Programm Horizon2020 mit 2,3 Millionen Euro und der Schweiz mit 400.000 Franken geförderte Projekt „TRACES. Transmitting Contentious Cultural Heritages with the Arts – From Intervention to Co-Production“ wird von Klaus Schönberger geleitet und koordiniert. Beteiligt sind Universitäten, KünstlerInnen, Kulturinstitutionen und Erinnerungsorte aus Nordirland, Italien, Deutschland, Norwegen, Schweiz, Rumänien, Schottland, Polen, Slowenien und Österreich.

Die fünf Creative Co-Productions CCPs :

1. Dead Images (Wien – Edinburgh, GB) widmet sich der Vermittlung der Schädelsammlung und anthropologischer Fotosammlung im Wiener Naturhistorischen Museum.

2. Casting of Death (Ljubljana, Slowenien) untersucht historische Totenmasken von prominenten Personen als politisches Propagandamedium.

3. Absence of Heritage (Medias, Rumänien) versucht die fehlende Erinnerung an die in der Ceaușescu-Ära zerstörten jüdischen Gemeinde wieder zu implementieren.

4. Awkward Objekts Of Genocide (Krakau, Polen) behandelt künstlerische Artefakte von Zeugen des Holocaust und deren Präsentationsformen.

5. Transforming Long Kesh (Belfast, Nordirland) ist eine kollaborative soziale Skulptur der Künstler Martin Krenn und Aisling O’Beirn, mit der die Zukunft des ehemaligen Gefängnisses Maze / Long Kesh erkundet wird.

Neben diesen fünf methodischen Tools der CCPs gibt es eine ganze Reihe von ethnografischen, darstellenden und vermittelnden Projekten in London, Florenz, Frankfurt/ M. und im Alpen-Adria-Raum, u. a. mit dem Universitätskulturzentrum UNIKUM.

http://www.traces.polimi.it/