Studierende mit den Silent Books | Foto: aau/Müller

Kleine Kunstverständige

Können Kinder die ästhetischen Spezifika von Kunst und Literatur wahrnehmen und deuten? Die Deutschdidaktikerin Nicola Mitterer hat es mit ihnen erprobt.

„Wie ein bekanntes Beispiel aus der Psychologie zeigt, kann ein Kind in einer Jacke, die über einen Stuhl gelegt ist, in einem Moment die Jacke erkennen und im nächsten die Verwandlung in einen Tiger beobachten. Kinder wechseln mühelos vom realistischen in den ästhetischen Modus“, erzählt Nicola Mitterer. Sie forscht und lehrt am Institut für Deutschdidaktik zum Schwerpunkt „Ästhetische Erfahrungen im Vorschulalter“. Ästhetik ist für sie nicht das Schöne und Wahre, sondern liegt stets im Auge des Betrachters: „Ästhetik ist der Modus, wie ich etwas wahrnehme. Bei Kindern ist die Art der Betrachtung meist kreativschöpferisch.“

Die Kompetenz, ästhetisch wahrzunehmen, passt nicht in die aktuelle pädagogische Strömung, wie Mitterer erzählt. Nach den aufrüttelnden PISA-Ergebnissen sei, so die Deutschdidaktikerin, in
den letzten Jahren das Geschehen selbst in den Kindergärten immer stärker funktionalisiert worden. „Späterer schulischer Erfolg ist das Ziel. Der Raum für freies, kreatives Schaffen ist dabei immer stärker den Vorübungen für das Schreiben und Rechnen gewichen. Herangezogen werden meist Bücher mit Sachinhalten oder pädagogisch-erzieherischen Inhalten.“ Es gelte, so Mitterer, zu fördern und bereits früh „Defizite auszugleichen“: „Das lässt aber wesentliche Potenziale der Kinder ungenutzt. Sichtbar wird das, wenn man Kindern etwas Anderes anbietet.“

Nicola Mitterer hat kürzlich in einem Projekt mit Kindern des Kindergartens Rauscherpark in Klagenfurt genau diese Erfahrung gemacht: Sie hat ihnen Bücher vorgelesen und sie dann eingeladen, die erzählten Geschichten entweder mit einer Zeichnung oder mit Sprache ‚nachzubearbeiten‘. „Jedes Kind war mit Begeisterung dabei. Selbst bei Kindern, die keine klassische bildungsbürgerliche Sozialisation erfahren haben, konnten wir erleben, wie sie ganz selbstverständlich mit den Bilderbüchern umgegangen sind.“

Eine ähnliche „ästhetische Erfahrung“ hat Nicola Mitterer den Kindern des Kindergarten Sunrise geboten: mit der Ausstellung „Silent Books – Final Destination Lampedusa“ Ende Juni in der Universitätsbibliothek. Die Ausstellung tourt mit 111 Bilderbüchern um die Welt; die nächste Station ist Kanada. Die Sammlung ist Teil eines größeren Projekts, in dem eine Bibliothek für alle Kinder und Jugendlichen in Lampedusa entsteht. „A library for the island’s children, so that they can learn to tell the difference between the horizon and the border, for children just passing through, so that Lampedusa can be more than just a staging post on their journey. Because throught books we can build an ethos of welcome, respect and participation“, so Guisi Nicolini, die Bürgermeisterin von Lampedusa und Linosa. Den InitiatorInnen geht es unter anderem darum, mit der Wanderausstellung das Schicksal der dort gestrandeten Kinder weiter zu transportieren. Für das Projekt in Klagenfurt haben Studierende einzelne Bücher in Szenarien übersetzt, um den teilnehmenden Kindern einen Zugang zu den Büchern zu ermöglichen.

Ein Beispiel ist Shaun Tans „The Arrival“: Das Buch, das aus vielen kleinen Kunstwerken besteht, handelt von einem Mann, der Frau und Tochter verlässt und in der Fremde bedrohliche und liebevolle Begegnungen erfährt. Alle Bewohner- Innen der Fremde werden von Tieren begleitet. Schließlich stößt auch der Protagonist auf ein Tier, das zu seinem Begleiter wird. Auch die am Ausstellungsprogramm
teilnehmenden Kinder haben basierend darauf ihre „Begleiter in der fremden Welt“ gezeichnet und mit Charaktereigenschaften beschrieben. „Ihnen ist damit etwas gelungen, was man wohl kaum vermuten würde: Reden über Kunst und Literatur im Vorschulalter“, so Nicola Mitterer.

für ad astra: Romy Müller