Gendiagnostik & Co.: Wie gehen wir gesellschaftlich damit um?

Die Medizintechnologie ist heute tatkräftiger denn je, aber wie verhält sich das, was medizinisch möglich ist, mit dem, was gesellschaftlich mitgetragen wird? Wir haben mit dem Technik- und Wissenschaftsforscher Erik Aarden über das Spannungsfeld zwischen Medizintechnik und Gesellschaft gesprochen.

Über 80 Prozent der Österreicher*innen benutzen ein Smartphone. Die Technologie, die seit 20 Jahren unseren Alltag wesentlich verändert hat, ist kaum mehr wegzudenken. An diesem Beispiel zeigt sich: Wissenschaft und Technik haben die Gesellschaft beeinflusst. Der Wandel ging in Windeseile vonstatten. Gleichzeitig hat die Gesellschaft beeinflusst, wie die Technik gestaltet wird. Das Ringen um Datenschutzvorrichtungen, vor allem in der Europäischen Union, zeigt, dass ein gesellschaftlicher Diskurs durchaus Auswirkungen darauf hat, unter welchen Rahmenbedingungen sich Technik entwickelt.

Von so hohen Akzeptanzquoten können manche neue medizinische Technologien in vielen Ländern nur träumen. Die stockende COVID-Impfkampagne ist ein Beleg dafür, dass es weitreichende Vorbehalte gab und gibt, die sich nicht schlicht mit Technologiefeindlichkeit erklären lassen. Erik Aarden ist Postdoc-Assistent am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung und beschäftigt sich damit, wie medizinische Technologien wie Gendiagnostik, personalisierte Medizin oder Biobanken in unseren Gesellschaften angenommen werden.

Wie die Einführung einer neuen medizinischen Innovation organisiert wird, hat immer auch eine kulturelle Dimension.

„Ich möchte vor allem vergleichend wissen: Wie sehen Menschen eine Technologie in verschiedenen Ländern?“, erklärt er uns. Dabei ließe sich oft gar nicht vereinfachend feststellen, dass beispielsweise die Niederländer*innen aufgeschlossen gegenüber Gentechnik seien und die Deutschen zurückhaltend. Stattdessen sind soziale Aspekte, aber auch Krankheitsbilder entscheidend. Aarden erklärt weiter: „In den Niederlanden gibt es zum vererbten Hochcholesterin ein Programm für genetisches Testen, das sehr gut entwickelt ist. In Deutschland wird Erblichkeit bei Cholesterin hingegen nur als ein Faktor unter vielen gesehen. Hingegen ist die Gendiagnostik bei Brustkrebs in Deutschland die primäre Option für Risikobeurteilung, in den Niederlanden setzt man mehr auf Einstufungen aufgrund der Familiendiagnostik.“ Das ist nur ein Beispiel von vielen, das für die Unterschiede in der Wahrnehmung von neuen Medizintechnologien in der Gesellschaft steht. Besonders, was den Aufbau von Biobanken betrifft, für die die Bevölkerung DNA- sowie Gesundheitsinformationen „spenden“ muss, sind die gesellschaftlichen Zugänge in Europa und Asien sehr unterschiedlich. Erik Aarden erläutert dazu: „Wie die Einführung einer neuen medizinischen Innovation organisiert wird, hat immer auch eine kulturelle Dimension. Entscheidend ist auch, wie das Gesundheitswesen organisiert ist, welche öffentlichen Haltungen es gegenüber einer Technologie gibt, aber auch die Frage, was man sich vom jeweiligen Gesundheitssystem erwartet.“

Wir fragen bei Erik Aarden aus aktuellen Gründen nach, wie er die Akzeptanz der mRNA-Impfstoffe gegen das Coronavirus einschätzt. Viele Menschen lehnen die Impfung nach wie vor ab. Auch hier würde sich ein detaillierter Blick auf das komplexe Problem lohnen, so Aarden: „Ich halte es für problematisch anzunehmen, dass die Menschen die Impfung ablehnen, weil sie auf der mRNA-Technologie beruht. Es gibt viele andere Gründe, die dafür entscheidend sind: Vertrauen die Menschen den Pharmaunternehmen oder ihren Regierungen? Wollen sie sich nur nicht  diktieren lassen, was sie tun und lassen sollen? Über die Beweggründe des Nichtimpfens wissen wir viel zu wenig.“ Als problematisch schätzt Erik Aarden ein, dass über weite Teile des Pandemieverlaufs in vielen europäischen Ländern nichtmedizinische Perspektiven zu wenig Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden haben: „Dafür hätten wir auch Sozialwissenschaftler*innen, Psycholog*innen und andere gebraucht, um das Thema breit abzudecken.“ Ein Fehler sei auch das Zeichnen von Horrorszenarien gewesen, die später dann nicht in der Form eingetreten sind: „Angstmache funktioniert nicht. Später hat man dann Erklärungsbedarf.“

Vertrauen ist entscheidend. Nehmen wir das Beispiel Biobanken: Um Rückschlüsse von bestimmten Geninformationen auf spätere Krankheitsbilder und Behandlungsmethoden ziehen zu können, müssen möglichst viele Daten gesammelt werden. In demokratischen Systemen muss man dazu Vertrauen über eine offene Kommunikation aufbauen: Kann ich mitreden, was mit meinen Daten passiert? Welche Art von Forschung wird mit meinen Daten betrieben? Werde ich später davon profitieren können, oder erwachsen daraus Therapien, die nur den Reichen zur Verfügung stehen? „Starke Ungleichheit, wie wir sie aus dem US-amerikanischen Gesundheitssystem kennen, macht Menschen skeptisch. Vielen ist dann nicht nachvollziehbar, welchen Vorteil man selbst von Biobanken hat“, so Erik Aarden.

Starke Ungleichheit macht Menschen skeptisch.

Insbesondere in der Medizin ist die Informationskluft zwischen der Forschung einerseits und der Praxis andererseits groß. Um Patient*innen adäquat aufklären zu können, braucht es Zeit. Und Zeit ist in vielen Arztpraxen ein rares Gut. Ärzt*innen übernehmen in ihrer Vermittlerrolle eine wichtige Funktion, so Erik Aarden: „Mediziner*innen haben ein gutes Verständnis dafür, was Technologie leisten kann. Sie sind es aber auch, die ihre Grenzen kennen. Technik kann nie unabhängig vom Sozialen gesehen werden. Wir können viel Hochtechnologie einsetzen, aber ist das auch immer sinnvoll?“ Nehmen wir hier das Beispiel der genetischen Tests: Nicht immer ist es für die Patient*innen vorteilhaft, über eine potenzielle Gefahr Bescheid zu wissen, die in Zukunft mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ihre Gesundheit bedrohen könnte. Andererseits gibt es aber auch Patient*innen, die so sehr in Sorge sind, dass ihnen ein Test auch psychologisch helfen kann, um die eigenen Ängste einzuordnen.

Doch wie werden wir in einer Welt leben, in der medizinische Hochtechnologie immer mehr Einzug hält? „Ob wir daraus etwas Positives gestalten, hängt vor allem von nichttechnischen Faktoren ab. Wie gehen wir gesellschaftspolitisch mit technischen Entwicklungen um? Profitieren alle oder nur wenige? Wie sind unsere Gesundheitssysteme aufgestellt?“, wirft Erik Aarden auf. Zur Beantwortung müsse die Technik noch stärker in das Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung rücken, denn: „Technik ist Teil der Gesellschaft. Wir können nicht abwarten, sondern müssen auf allen Ebenen der Gesellschaft beitragen, dass unsere Zukunft positiv gestaltet wird.“

für ad astra: Romy Müller