Gender Studies als verändernde Wissenschaft

Gesellschaftskritik ist ein wichtiges Merkmal der Geschlechterforschung. Dass der Fortschritt dabei nicht immer linear ist, zeigt sich auch in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Seit 20 Jahren besteht nun das Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien an der Universität Klagenfurt. Wir haben mit der Leiterin des Zentrums, Kirstin Mertlitsch, über die Relevanz der Gender Studies gesprochen.

Den Gender Studies wird oft der Vorwurf gemacht, sie würden nur eine akademische Elite bedienen. Wie würden Sie jemandem, der nichts mit Universitäten am Hut hat, die Relevanz der Gender Studies erklären?
Ich würde auf die aktuelle Situation Bezug nehmen: Wir sind ja noch immer in der Pandemie und es hat sich seit März 2020 gezeigt, dass durch die Gesundheitskrise und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen die Geschlechterbilder retraditionalisiert wurden. Das beweist uns, dass der Wandel bei den Geschlechterverhältnissen, der in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, nicht tiefgreifend und nachhaltig war, sondern sich die Gefüge rasch wieder in die andere Richtung zurückentwickeln können. Um ein Beispiel zu nennen: Frauen haben die meiste Care-Arbeit übernommen, die während der Lockdowns wieder in die Haushalte zurückgewandert ist. Viele Frauen sind auch in normalen Zeiten nach wie vor in Teilzeit, was schwerwiegende Folgen für die Gehälter und spätere Pensionszahlungen hat.

Die Gewalt ist dabei aber oft nicht nur struktureller Natur, sondern findet auch physisch statt.
Ja, hier zeigt sich, dass die Gender Studies auch für Themen relevant sind, bei denen es um Leib und Leben geht. Zuletzt gab es eine erschreckend hohe Anzahl von Femiziden in Österreich, aber das sind nur die schlimmsten Auswirkungen jener Bedingungen, unter welchen viele Frauen in ihren Familien und beruflichen sowie sozialen Beziehungen oft leben müssen. Der Bereich Sexismus und sexuelle Gewalt wurde mit der Kampagne #metoo noch mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Vieles wurde früher bagatellisiert und nicht als eigenes Phänomen anerkannt.

Was kann die Geschlechterforschung dazu leisten?
Genderforscher*innen betrachten die Geschlechterverhältnisse in unterschiedlichen Domänen. Sie erheben den Status quo. Gleichzeitig verstehen sich die Gender Studies auch als verändernde Wissenschaft, die auch eingreifend ist. Geschlechterforschung möchte Geschlechterbilder verändern und durch sie verursachte Einschränkungen und Missstände veränderbar machen. Dafür muss sie ihnen aber auch auf deren Grund gehen: Sind sie biologisch? Sind sie erworben oder sozialisiert? Ein zentraler Ansatz der Gender Studies ist die soziale Konstruktion von Geschlecht und von Geschlechterverhältnissen. Sozialisationsprozesse tragen im Wechselspiel mit materiellen Prozessen dazu bei, wie wir im Alltag Geschlecht sehen. Darüber hinaus beschäftigen sich die Gender Studies auch mit anderen sozialen Dimensionen wie Sexualität, Ethnizität, Klassismus, Religion etc., kurz mit anderen Diskriminierungsformen. Längst geht es nicht nur mehr um die Kategorie Geschlecht, sondern um die Verknüpfung mit anderen sozialen Kategorien, Stichwort: Intersektionalität, Post- und Dekolonialität.

Wie nehmen Sie die aktuellen Entwicklungen wahr?
Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück, zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. Der Prozess ist nicht linear. Das sehen wir zum Beispiel in Hinblick auf die Zwei-Geschlechterkonstruktionen, die zunehmend vom Konzept der Geschlechtervielfalt abgelöst werden. Da tut sich sehr viel. Heute ist in viele gesellschaftliche Domänen die Erkenntnis eingesickert, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. Gleichzeitig sind die Reaktionen von vielen politischen Kräften heftig. Wir haben also einerseits einen Fortschritt, aber gleichzeitig führt die neue Offenheit auch zu einem massiven Widerstand.

Wie ergeht es den Gender Studies in Österreich? In Deutschland wird der Status als wissenschaftliche Disziplin ja auch immer wieder öffentlich debattiert.
Man kann vielleicht zwei Ebenen der Anfeindung unterscheiden: eine durch die Politik und eine innerhalb des akademischen Feldes: In Deutschland ist die AfD stark darin, eine Politik des Antigenderismus zu betreiben. Diese Partei fordert sehr stark traditionelle Geschlechterverhältnisse ein und spricht sich gegen die Idee der sozialen Konstruktion von Geschlecht aus. Diese Tendenzen gibt es in Österreich auch. Unter Kolleg*innen und Studierenden der Klagenfurter Universität haben wir die Hinterfragung der Gender Studies nicht in dieser radikalen Form erlebt. Wir sind gut integriert, auch in den Studienplänen aller Fächer. Zum Beispiel melden sich üblicherweise 400 bis 450 Studierende zur Einführungsvorlesung für Gender Studies an. Die Resonanz ist also sehr positiv. Problematisch sind hingegen (innerakademische) Konfliktlinien, in denen die wissenschaftliche Legitimität ganzer Disziplinen und Wissenschaftstraditionen rigoros in Frage gestellt wird, auch die der Gender Studies.

Mit dem Sternchen ist ein Symbol für Geschlechtervielfalt in die universitäre Sprache eingezogen, mittlerweile sprechen auch Moderator*innen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geschlechtergerecht. Wie werten Sie den Erfolg dieser Symbole?
Es ist gut und wichtig, dass die Sprache sensibel gewählt wird und sich alle Geschlechter in der Sprache wiederfinden. Aber es ist ein Thema unter vielen, das oft unverhältnismäßig viel öffentliche Wahrnehmung genießt. Gleichzeitig stehen massive gesellschaftliche Probleme im Raum, wie der schon erwähnte Pension Pay Gap im Ausmaß von rund 40 Prozent oder der Gender Pay Gap bei den Löhnen, der noch immer bei 20 Prozent liegt. Noch immer sind nur neun Prozent aller Bürgermeister*innen in Österreich Frauen. In der Vereinbarkeitsfrage tut sich nach wie vor sehr wenig. Die Vorstellungen von Kleinfamilien sind immer noch sehr traditionell, obwohl es längst unterschiedliche Formen des Zusammenlebens wie Regenbogenfamilien, Patchworkfamilien etc. gibt. All diese Zustände empfinde ich als skandalös. Sie verdienen meiner Meinung nach mehr Aufmerksamkeit.

Theoretisch müssten Frauen an den Universitäten gleich viel wie Männer verdienen, sind wir doch alle in den gleichen Gehaltsschemen. Ist die Universität ein genderneutraler Raum ohne Diskriminierung?
Man müsste die Gehälter offenlegen, aber das ist schwierig. In Schweden wird anders damit umgegangen, dort sind alle Gehälter öffentlich einsehbar. Die Universität ist natürlich kein genderneutraler Ort. So hat sich beispielsweise während der Pandemie deutlich gezeigt, dass die Retraditionalisierung auch an der Universität stattgefunden hat. Frauen haben zum Beispiel in der Pandemie deutlich weniger publiziert. Das hat sicher mit der häuslichen Aufteilung des ruhigen Arbeitszimmers und der Betreuungsarbeit für Kinder zu tun. Und natürlich ist die Universität auch schon deshalb kein genderneutraler Raum, weil es zu einem sehr großen Teil Akademiker*innen sind, die auch mit der (Wieder-)Herstellung von Wissen über Geschlechter beschäftigt sind; jenem Wissen, das dann wieder gesellschaftspolitisch wirksam wird.

für ad astra: Romy Müller

 

20 Jahre UZF*G Klagenfurt: A p a r t – Together – Becoming With!


Unter diesem Motto feierte das Klagenfurter Universitätszentrum für Frauen*- und Geschlechterstudien sein 20-jähriges Bestehen Anfang Dezember 2021 mit einer Online-Arbeitstagung. Dabei ging es um die Fragen des Verbündet-Seins, um Vergemeinschaftungs- und Solidaritätsprozesse auch im Sinne des Mit-Seins und Mit-Werdens aus feministischer, queer-feministischer und intersektionaler Perspektive. Die Tagung wurde von Claudia Brunner, Gabriele Dietze, Brigitte Hipfl, Verena Kumpusch, Kirstin Mertlitsch und Pauline Roeseling konzipiert. Für die Organisation waren Kirstin Mertlitsch (sie leitet das Universitätszentrum), Alina Kopkow, Tine Haupt, Marco Messier und Noreen Schneiders verantwortlich.
Einen Rückblick finden Sie unter www.aau.at/gender/.