Eine Klassifizierung der Armen
In einer umfassenden ethnographischen Feldforschung hat Julia Malik (Institut für Gesellschaft, Wissen und Politik) untersucht, welche Auswirkungen das digitale Klassifikationssystem Kolumbiens, das die Grundlage für die Vergabe von Sozialhilfe ist, auf den Staat und Bürger:innen hat. Im Portrait berichtet sie über das System und ihre bisherigen Erkenntnisse.
Ist man in Kolumbien nicht hinreichend finanziell betucht, um ohne staatliche Unterstützungen auszukommen, muss der sozioökonomische Status eines Haushalts in einem digitalen Klassifikationssystem erfasst werden. Dafür besuchen Beamt:innen die Familien und füllen mit ihnen einen digitalen Fragebogen aus. Auf diesem Weg will der Staat herausfinden: Wer verdient aktuell wie viel? Dafür werden beispielsweise Informationen zur Beschaffenheit und Ausstattung von Häusern und Wohnungen gesammelt und Fragen gestellt wie: Welcher Arbeit gehen die Haushaltsmitglieder nach? Welche Ausbildungen haben sie? Diese gesammelten Informationen nutzt der Staat, um mittels Algorithmen vorherzusagen, welches Einkommenspotenzial ein Haushalt hat. Personen werden dabei in vier Stufen mit weiteren Untergruppen unterteilt: extrem arm, arm, vulnerabel, nicht arm oder vulnerabel. Dieser Status entscheidet dann darüber, ob man Anspruch auf staatliche Sozialleistungen hat und, wenn ja, auf welche. Der Algorithmus, der berechnet, wer in welche Kategorie eingeteilt wird, ist nicht öffentlich. Selbst die befragenden Beamt:innen auf der lokalen Ebene kennen die Berechnungsmethoden nicht. Für die Wissenschafts- und Technikforscherin Julia Malik ist das System besonders interessant, weil es vielfältige Auswirkungen auf Sozialhilfe und den Staat hat.
Für rund 13 Monate war Julia Malik nun als ethnographische Feldforscherin in Kolumbien sowohl in der Hauptstadt Bogotá als auch in ländlichen Regionen unterwegs, hat die staatlichen Vertreter:innen bei ihren Hausbesuchen und Befragungen begleitet und den Angestellten in den Ämtern über die Schulter geschaut. Der Algorithmus blieb dabei freilich auch ihr verborgen. Auf diesem Weg hat sie dennoch viel über die Auswirkungen der Technologie auf die Menschen gelernt, zum Beispiel über das Verhältnis zwischen Staat und Bürger:innen, über bürokratische Arbeit, Sozialpolitik, Verständnisse von Armut und die Vergabe von Sozialleistungen.
Gefragt danach, warum so viel Aufhebens um die Geheimhaltung der Berechnungsmodi gemacht wird, erklärt Julia Malik: „Die nationale Behörde fürchtet, auf zwei Ebenen manipuliert zu werden. Die Menschen, die Sozialhilfe in Anspruch nehmen wollen, stehen im Verdacht, nicht ihr gesamtes Hab und Gut sowie Einkommen anzugeben. Und die lokalen Gemeindevertreter:innen stehen im Verdacht, den Menschen zu helfen, das System so zu beeinflussen, dass sie eher in förderwürdige Armutsstufen kategorisiert werden. Gleichzeitig haben viele Menschen einschließlich lokaler Beamt:innen den Eindruck, dass man ohne diese Praktiken überhaupt keine Chance im System hat und das System die Lebensrealität von vielen Menschen nicht richtig abbildet.“ Das System besteht in dieser Weise bereits seit 1995, kürzlich sind neue Berechnungsmethoden mit weit mehr Variablen hinzugekommen, die es schwerer machen sollen, Vorhersagen über Auswirkungen bestimmter Antworten auf einzelne Fragen zu treffen: „In der vorigen Version waren es rund 30 Variablen, nun ist man bei über 200 Variablen, die mit Machine-Learning-Methoden ausgewertet werden. Das soll es schwieriger machen, zu verstehen, was hoch- und was niedriggewichtet ist. Vor allem langjährige lokale Beamt:innen eignen sich trotzdem in ihren Erfahrungen mit dem System Wissen darüber an und experimentieren damit“, so Julia Malik.
Die damit einhergehende Intransparenz und die Lupe, die auf arme Menschen gerichtet wird, ruft NGOs und Rechtshilfeorganisationen auf den Plan, einerseits, weil das System ihrer Wahrnehmung nach demokratiepolitisch bedenklich ist, und andererseits, weil auch Datenschutzfragen offen sind. Offiziell ist die Erhebung völlig freiwillig. Wer aber nicht freiwillig mitmacht, hat in vielen Kontexten keine Chance auf Unterstützung, beispielsweise auch wenn es um die Bewerbung um einen Platz in einem geförderten Kindergarten geht. „Eine kolumbianische NGO spricht beispielsweise von einem Experiment an den Armen, in dem der Staat viele Informationen sammelt, während die Menschen selbst nicht darüber informiert sind, wie diese verarbeitet und genutzt werden. Es herrscht ein großes Ungleichgewicht. Der Staat argumentiert, dass das Aussortieren nötig ist, weil nicht genügend Ressourcen vorhanden sind, um allen zu helfen, die es benötigen. Aber die Antwort auf die Frage, wer am allerdringendsten Hilfe braucht, ist nicht eindeutig. Aktuell birgt das Klassifizierungssystem die Gefahr, Menschen von der Befriedigung elementarer Bedürfnisse auszuschließen. Außerdem bleiben grundlegendere Debatten um Ungleichheit und Umverteilung in Kolumbien dabei außen vor“, stellt Julia Malik fest. Für sie war es ungemein spannend, die verschiedenen Perspektiven auf das System zu erfassen und damit auch zu analysieren, welche Bedeutungen ein Algorithmus bekommt und wie unterschiedlich mit ihm interagiert wird.
Zu Kolumbien hatte Julia Malik vor ihrem Forschungsaufenthalt keine Beziehung. Über ihr theoretisches Interesse an Datenbanken und Algorithmen in Bezug auf Sozialhilfe stieß sie dann auf diese Form des Sozialregisters. Besonders interessant schien ihr dann das Fallbeispiel Kolumbien aufgrund des politischen Kontexts im Land und weil es dort ein schon lange bestehendes System gibt, das vor kurzem in einer neuen Version eingeführt und mit anderen Datenbanken verknüpft wurde, um Informationen automatisiert zu überprüfen. Viele Studien zu Digitalisierung in der Wissenschafts- und Technikforschung fokussieren außerdem auf Länder des Globalen Nordens. Insofern sieht sie ihre Forschung in einem lateinamerikanischen Land als wichtige Ergänzung zu diesen Studien, die neue Erkenntnisse über automatisierte Wohlfahrt ermöglicht. Die komplexe Konstellation schien Julia Malik, die eine Stelle als Universitätsassistentin am Institut für Gesellschaft, Wissen und Politik an der Universität Klagenfurt innehat, spannend und gut geeignet, um ethnographische Feldforschung zu betreiben. Schon während ihres Bachelor- und Masterstudiums der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien begeisterte sie diese Form, gesellschaftlichen Phänomenen sehr tiefgreifend auf den Grund zu gehen. Nach ihrem Abschluss kam sie für die Prä-Doc-Stelle an die Universität Klagenfurt in die Gruppe von Daniel Barben. Ihre Arbeiten an ihrem Dissertationsprojekt sind nun schon weit fortgeschritten: Die Erhebungsphase von Daten und die Feldforschung sind weitgehend abgeschlossen. Nun geht es an die Auswertung und Interpretation der Daten und die Verschriftlichung.
Auf ein paar Worte mit … Julia Malik
Wann haben Sie zuletzt über Ihre Forschung mit jemandem außerhalb der Scientific Community gesprochen?
Oberflächlich kommt das öfter vor, zum letzten Mal vor ein paar Wochen auf einer Feier. Normalerweise finden Leute es interessant und/oder schockierend, dass Algorithmen die Klassifizierung machen, dass die Einkommensdaten von Personen für den Staat nicht einfach übers Finanzamt oder ähnliches verfügbar sind, und dass intime Hausbesuche und Befragungen durchgeführt werden.
Was machen Sie im Büro morgens als Erstes?
Fenster auf, Schuhe aus, Tee, E-Mails und meine Post-It-Wand mit ToDos, Doing, und Have Dones bearbeiten. Ich plane aber eine neue Schreibroutine auszuprobieren, bei der das Schreiben die allererste Tätigkeit jedes Arbeitstages ist.
Wer ist für Sie die größte Wissenschaftler:in der Geschichte und warum?
Ich bewundere Wissenschaftler:innen, die kritisch gesellschaftlich relevante Phänomene untersuchen, dabei bestehende Annahmen hinterfragen und auf das blicken, was vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, mit dem Anspruch, soziale Verhältnisse zu problematisieren und Ungerechtigkeiten abzubauen.
Was bringt Sie in Rage?
Ungerechtigkeiten und Herrschaftsverhältnisse, (selbst)ausbeuterische wissenschaftliche Arbeit, menschen- und fahrradfeindliche Städte, lärmendes Verhalten im Zug (besonders im Ruheabteil), privatisierte und kommerzialisierte Seezugänge.
Und was beruhigt Sie?
Spaziergänge im Wald, schwimmen im See, trommeln, Yoga, Coming-of-Age-Serien, mein Partner und meine Freund:innen.
Machen Sie richtig Urlaub? Ohne an Ihre Arbeit zu denken?
Ja, für mein Wohlbefinden ist das sehr wichtig. Manchmal klappt es nicht, ohne zumindest in Gedanken bei der Dissertation zu bleiben, aber ich versuche es jedenfalls. Ich habe gemerkt, dass es mir leichter fällt, abzuschalten, wenn ich einen längeren Zeitraum am Stück Urlaub mache.
Wovor fürchten Sie sich?
Vor Klimakrise, Faschismus, kapitalistischer Macht- und Profitgier. Davor, gewissen Erwartungen nicht gerecht werden zu können, auch im akademischen Bereich. Und davor, dass mich beim Radfahren ein Auto niederfährt.
Worauf freuen Sie sich?
Auf Sommer und Draußen-Sein, inspirierende Begegnungen, gutes Essen, anregende wissenschaftliche Texte und Diskussionen, Schreib-Flows, freie Tage ohne Pläne und Verpflichtungen.