Einblick in die Lehre… 3 Fragen an Viktoria Walter

Texte – ob in Literatur, Nachrichten oder Unterhaltung – erzählen immer etwas über die Zeit, in der sie entstanden sind und über die, die sie erzählen. Was ist ein Kunstmärchen und wo kommt es her? Dieser Frage und mehr geht Viktoria Walter mit ihren Studierenden in der Lehrveranstaltung nach.

Können Sie uns etwas Näheres zu Ihrer LV „Das Kunstmärchen (in) der Romantik und Gegenwart: Stoffe, Texte, Adaptionen“ erzählen? Worum geht es dabei genau?

Im Proseminar beschäftigen wir uns in erster Linie mit den Kunstmärchen, die um 1800 entstehen. Das heißt wir befinden uns am Anfang der „romantischen“ Kunstperiode. Zu dieser Art von ‚Subgattung‘ gehören das ‚Märchen‘ aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter von Goethe genauso wie die von Wieland und Novalis, oder die als „Ammen“- bzw. „Kindermärchen“ titulierten von Ludwig Tieck. ‚Kunstmärchen‘ unterscheiden sich von den ‚Volksmärchen‘ dadurch, dass sie „gemacht“, also in gewisser Weise artifiziell sind. Bei genauerem Hinsehen ist diese Unterscheidung aber selbst künstlich, denn selbstverständlich schöpfen die Autoren aus den Stoffen der gleichen mündlichen Tradition.

Diese zugrunde liegenden Stoffe und Motivketten analysieren wir genauer, und untersuchen, woher die Autoren diese „beziehen“. Autoren, weil die meisten dieser Epoche männlich sind. Märchen werden in der Regel zwar von Frauen weitergetragen, allerdings scheinen diese zumeist nur als Erzählfigur auf.

Interessanterweise tauchen manche Topoi, wie zum Beispiel das der Göttin Isis, die schon in Schillers Ballade „Das verschleierte Bildnis zu Sais“ eine Rolle spielt, in abgewandelter Form dann später bei anderen Autoren wieder auf. Beispielsweise bei Novalis („Hyazinth und Rosenblütchen“) und Hugo von Hofmannsthal („Das Märchen von der verschleierten Frau“).

Im Fall von Undine kann von einem regelrechten Mythos gesprochen werden, der schon im Hochmittelalter bekannt ist, und sich über die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts bis ins 20. fortschreibt. Man denke nur an Goethes Der Fischer oder Friedrich de la Motte-Fouqués Undine oder später an Ingeborg Bachmanns Undine geht.  Die Wassernixe strahlt auch auf die Filmproduktion der Gegenwart aus: letztes Jahr feierte Christian Petzolds Undine Premiere. Eine filmische Adaption, die wir auch diskutieren werden.

Was wollen Sie Ihren Studierenden mitgeben?

Mir ist es wichtig, zu zeigen, dass auch so hoch fiktionale Erzählungen wie die der Märchen keineswegs aus dem Nichts geboren werden. Vielmehr sind sie als Texte zu betrachten, die wiederum andere Einflüsse aufnehmen und neu ausgestalten. Zum Beispiel die Märchen aus 1001 Nacht oder Les Contes de ma mère de l`oye, eine bekannte französische Märchensammlung.
Das von Julia Kristeva so prominent formulierte Modell der „Intertextualität“ kann dabei helfen, weil es annimmt, dass sich ein Text „als Mosaik von Zitaten aufbaut“, dass jeder Text „Absorption und Transformation eines anderen Textes“ ist. Tzvetan Todorov ist von ähnlichen Voraussetzungen ausgegangen, und hat konkret an einer Vielzahl von Märchen die Variation von bestimmten, wiederkehrenden, zutiefst anthropologischen Grundthemen nachzuweisen versucht.
Solche „Erzählmuster“ in den Märchen zu finden, vielleicht auch solche, die von späteren Autor*innen wieder aufgegriffen, dann aber anders verdichtet werden, kann einen weiträumigen Blick auf Literatur eröffnen – der sich übrigens auch dann lohnt, wenn man von zeitgenössischer Fantasy ausgeht und einen Blick zurückwerfen will.

Was ist Ihr persönlicher Bezug zu dieser Thematik?

Ich habe mich kürzlich im Rahmen eines Forschungsseminars mit Kolleg*innen ausgetauscht, die sich mit der so genannten „Autonomieästhetik“ beschäftigen. Ein Konzept, mit dem ich bislang eher wenig anfangen konnte. Es suggeriert eine große Abgeschlossenheit, eine Ingeniösität der Autor*innen, und systemische „Blase“ von Literatur – ganz ähnlich der l‘art pour l‘art, deren Tendenz ja dann tatsächlich eine eher „unzweckmäßige“ ist. Was die Kunstmärchen betrifft, werden diese oft der gleichen Richtung zugeordnet. Tatsächlich kann man an ihnen aber einen großen Anspielungsreichtum bemerken, nicht zuletzt in politischer Hinsicht. Das fängt schon in Wielands Märchensammlung Dschinnistan an: Im „Stein der Weisen“ wird mehrfach die Dekadenz des Königs kritisiert, sein Hang zu Quacksalbern und Dekor. Im Stein der Weisen glaubt er nichts als das nötige Werkzeug für ewigen, sich vermehrenden Reichtum zu erblicken. Ein Trugschluss, wie sich herausstellt, noch dazu, weil er sich als Esel verwandelt wiederfindet. Auch spielt die Lilie, in der zeitgenössischen Heraldik das Symbol der französischen Monarchie, eine große Rolle. Und das soll zum Entstehungszeitpunkt des Märchens, zwischen 1786 und 1789, etwa nicht „politisch“ sein? (Wieland deshalb gleich zum Befürworter der Revolution zu erklären, wäre jedoch ebenso falsch.) Diese Form „klassischer“ Dichtung kann – wie ich meine – oft auf zweierlei Weise gelesen werden: als Märchen, das nichts weiter will, als zu unterhalten – oder eben auch als Mahnung an die, die es zu weit treiben; als Spiegel der Mächtigen und Spiel mit den Absonderlichkeiten des Lebens.

Zur Person

Viktoria Walter ist Lehrende an de Universität Klagenfurt. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der komparatistischen Editionsphilologie. Sie absolvierte das Studium der Neueren Deutschen Literatur an der Ludwig-Maximilians Universität in München.

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