Die Faszination des Mittelalters

Von Kreuzzügen in immersiven Computerspielen über blutige Schlachten in Kinofilmen bis hin zu Ritterspielen zur Belustigung von Tourist*innen – das Mittelalter begleitet uns ständig. Abseits der populärkulturell geprägten Assoziationen ist es jedoch vor allem die Beschäftigung mit den gewöhnlichen Routinen und Handlungsimpulsen im mittelalterlichen Alltag, die das Zeitalter für uns begreiflich macht.

Die Bezeichnung „Mittelalter“, die sich ausgehend von der humanistischen Bewegung ab dem 14. Jahrhundert als Abgrenzung zur Moderne ausbreitet, schleppt von Anfang an negative Assoziationen mit sich, von Bildungskatastrophe und Gewalttätigkeit bis zum Mangel an Zivilisation. Auch heute schlägt sich das Negative beharrlich im allgemeinen Sprachgebrauch nieder – was als rückständig oder schlecht erklärt werden soll, wird oft als mittelalterlich bezeichnet.

Christian Jaser, Universitätsprofessor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Grundwissenschaften am Institut für Geschichte, bietet zur besseren Orientierung eine kurze Einordnung: Unterteilt in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter erstreckt sich die Epoche – auf Westeuropa bezogen und nach konventioneller Berechnung – über einen Zeitraum von grob 1.000 Jahren, wobei der Fall des Römischen Reiches im Jahr 476 den Anfangspunkt bilden kann und verschiedene Ereignisse um 1500, wie etwa die Erfindung des Buchdrucks, der Fall Konstantinopels und die Reformation, das Ende des Zeitstrahls skizzieren.

„Das Frühmittelalter wird aufgrund der Armut an schriftlichen Quellen mitunter als Dark Ages bezeichnet.“
(Christian Jaser)

Im angelsächsischen Raum wird das Frühmittelalter aufgrund der damals vorherrschenden mündlichen Tradition und der damit einhergehenden Armut an schriftlichen Quellen mitunter als Dark Ages bezeichnet. Auch aus dem deutschsprachigen Raum sind uns aus den frühen Jahrhunderten des Mittelalters wenige Werke erhalten geblieben, und diese liefern mitunter eine schwer überprüfbare, monologische Darstellung. Mit dem Übergang ins Hochmittelalter, um das 11. Jahrhundert, fließen die Quellen immer reichlicher, und das setzt sich in der städtischen Welt des Spätmittelalters fort, so dass Mediävist*innen heute anhand der Fülle an Originalmaterialien in den Archiven nuancierte Aussagen über das Leben im Mittelalter treffen können. Aber auch für das quellenarme Frühmittelalter ergeben sich durch Perspektivenwechsel in den Fragestellungen laufend neue Erkenntnisse.

Unter die jüngeren Ansätze, das finstere Mittelalter aus wissenschaftlicher Sicht zu durchleuchten, reiht sich auch die interdisziplinäre Forschung zu Klanglandschaften, an der die Kunstgeschichte, die Musikwissenschaften, die Philologien und die Mediävistik gemeinsam arbeiten. Allgemein gilt das Mittelalter, vor allem im Gegensatz zu den lautstarken Industrialisierungs- und Urbanisierungsbewegungen der Moderne, als stille Epoche. Forscher*innen blicken heute hinter diese weit verbreitete Vorstellung der dörflichen Idylle, indem sie etwa untersuchen, ob im Mittelalter zwischen Klang und Lärm unterschieden wurde und wie Stadtobrigkeiten realpolitisch reagierten, um Lärm zu reglementieren. Die differenzierte Betrachtung von unterschiedlichen räumlichen Einheiten wie Stadt und Land, aber auch Unterschiede in der Wahrnehmung und Reaktion – etwa von Bauern und Geistlichen auf den Klang von Glocken – gehören dabei ebenso zur Lautsphärenforschung wie die Aufarbeitung von literarischen Texten mit ihrem Reichtum an Beschreibungen,
zum Beispiel jener Klangräume, die sich bei einem mittelalterlichen Fest mit laut spielenden höfischen Pfeifern oder an Markttagen mit Stadtschreiern entfalten.

Christian Jaser beschreibt das Mittelalter als dynamisches Forschungsfeld, das sich von Forschungsgeneration zu Forschungsgeneration verändert, weil die jeweilige Gegenwart aus der Fragestellung nicht auszublenden ist. Lange Zeit war die europäische Geschichtswissenschaft, die heute um die 150 Jahre alt ist, in ihrer Forschungstradition eher nationalstaatsbezogen. Das Sammeln und Studieren von mittelalterlichen Quellen diente im 19. Jahrhundert als identitätsstiftendes Moment für den frühen Nationalstaat. Mit der zunehmenden Integration Europas und der neuen europäischen Identität nahm der Fokus auf einzelne Nationalmittelalter mit der Zeit etwas ab. Heute, mit der – auch pandemiebedingten – Rückkehr des Nationalstaats, beobachten Mediävist*innen populistische Strömungen am rechten Rand des politischen Spektrums, die sich in ihren Manifesten ausgiebig an mittelalterlichen Bezügen bedienen und die populäre Faszination mit dem Mittelalter mittels kruder Bildersprache instrumentalisieren. Christian Jaser unterstreicht hier nochmals die Notwendigkeit einer möglichst differenzierten Erforschung des Zeitalters in all seiner Vielfalt samt Wissenstransfer in die Gesellschaft, insbesondere wo neuere Erkenntnisse von der traditionellen Idee eines homogenen christlichen Mittelalters des Abendlandes klar abweichen.

„Eine sorgfältige Interpretation von Quellen ermöglicht die Annäherung an den völlig andersartigen mittelalterlichen Blick auf die Welt.“
(Christian Jaser)

Für Christian Jaser liegt die persönliche Faszination des Mittelalters vor allem darin, wie sehr sich die Sichtweise der damaligen Welt von der vorwiegend säkularen Gesellschaft im heutigen Mitteleuropa unterscheidet. Insbesondere schätzt er, dass mit jedem neuen Erkenntnisgewinn gegenwärtige Gewissheiten relativiert werden. Eine sorgfältige Interpretation von Quellen ermöglicht die Annäherung an den völlig andersartigen mittelalterlichen Blick auf die Welt. Das fördert die Reflexion über die eigene Zeit und erinnert uns, dass unser heutiges Denken ebenso historisch und veränderlich ist.

für ad astra: Karen Meehan