Dem Mythos auf der Spur

Wenn wir von einem Mythos sprechen, handelt es sich oft um etwas Erfundenes, etwas Phantastisches. Die Philosophin Mayya Soboleva vertritt jedoch in einem aktuellen Forschungsprojekt, gefördert vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, eine andere Position.

Frau Soboleva, von welchem Standpunkt aus betrachten Sie den Mythos?

Ich benutze den Begriff im Singular. Ich verstehe unter Mythos eine spezifische Form der menschlichen Rationalität. Das ist auch entscheidend, da Mythos normalerweise als Gegensatz zu Logos, der Rationalität, der Vernunft, gesehen wird. Für viele hat er überhaupt nichts mit rationalem Denken zu tun. Mythos ist irrational. Das sehe ich nicht so.

Was macht die Rationalität des Mythos für Sie aus?

Unsere menschliche Rationalität geht meines Erachtens auf unsere grundlegende Fähigkeit zur begrifflichen Einbildungskraft zurück. Ihr entspringen alle mögliche Formen des Narrativs – das wissenschaftliche, das religiöse, das mythische usw. Der Mythos repräsentiert nur eine besondere Form des Denkens neben den anderen. Er ist ein spezifischer Weg, um die Welt und sich selbst zu verstehen. Damit ist verbunden, dass der Mythos eine eigene Lebensform konstituieren kann und ein spezifisches Narrativ ist, das wir benutzen, um unsere Selbstidentität zu stiften. Unter diesen Aspekten habe ich den Mythos untersucht.

Ist der Mythos ein aktuelles Thema?

Ja, denn wenn er Teil unserer menschlichen Rationalität ist, dann praktizieren wir, die modernen Menschen, immer noch Mythen. Von den Mythen, in der Pluralform, sind wir reichlich umgeben. Sie fungieren als Strukturen, die unsere alltäglichen Erfahrungen in gewissem Maße ordnen.

Wie haben Sie sich dem Mythos in Ihrem Projekt genähert?

In der Philosophie klärt man unter anderem Begriffe. In diesem Fall versuche ich den Begriff Mythos zu klären – als eine Denkform, Wahrnehmungs- und Lebensform. Dafür habe ich die hermeneutische Bedeutungstheorie von Georg Misch benutzt, weil sie Begriffe besitzt, die als analytische Mittel verwendet werden können. In der hermeneutischen Theorie spricht man von der evozierenden Rede und der rein diskursiven Rede. Die erste öffnet den Zugang zur Analyse des Mythos.

Was bedeuten diese Begriffe?

Wenn wir über etwas sprechen, beziehen wir uns auf außersprachliche Gegenstände. Wenn ich über ein Haus spreche, beziehe ich mich auf ein tatsächliches Haus. Es muss verifizierbar, objektivierbar werden. Meine Worte haben also außersprachliche Referenten. Das ist die diskursive Rede. Bei der evozierenden Rede geht es um reine Bedeutungen. Es geht um Worte, die entweder keine Referenten haben oder nicht eindeutig definierbar sind, wie Liebe oder Ehre, und dennoch versteht jeder, was wir damit meinen.

In Ihrem Forschungsprojekt wenden Sie diese Begriffe auf den Begriff Heimat an.

Ja, genau. Wir hatten im Herbst 2020 eine Tagung, bei der wir uns dem Begriff Heimat genähert haben. Wir haben darüber gesprochen, was Heimat ist. Ist es ein Objekt, ein Haus, ein Dorf, eine Stadt? Oder ist es etwas Imaginäres, das wir in uns selbst tragen? Auf jeden Fall ist es etwas, das uns zu uns selbst macht. Die Tagung war eine Möglichkeit, die Theorie, die ich entwickelt habe, zu verifizieren.

Was haben Sie herausgefunden?

Wir können rein diskursiv darüber sprechen, dann werden zum Beispiel ein Dorf oder ein Haus als Heimat verstanden. Heimat ist aber auch ein Produkt unserer Sozialisierung. Meine Familie und Vorfahren haben dieses Dorf als Heimat gesehen, und jetzt halte ich es auch für Heimat. In diesem Fall handelt es sich um eine von außen geprägte Identität ist. Ich bin aus diesem Dorf und alle halten mich für einen Teil von ihnen. Wir können aber auch über Heimat reden und dabei die evozierende Rede verwenden. Wie Ernst Bloch gesagt hat: Heimat ist ein Ort, wo noch keiner war. Es ist etwas Ideelles. Man kann sie sogar selbst erfinden, denn sie muss nicht mit materiellen Gegenständen in Verbindung gebracht werden. In diesem Fall kann man Heimat als einen Mythos betrachten. Dieser hat aber eine Funktion. Wenn ich mir selbst eine Heimat „erfinde“ – welche natürlich auch mein Dorf sein kann –, dann ist es etwas ganz Anderes, denn ich habe sie und somit mich selbst selbstbestimmt gewählt.

Ist der Mythos somit auch eine Möglichkeit, um die Welt zu erklären und zu verstehen?

Wir haben in unserer Gesellschaft mit vielen Mythen zu tun. Verschwörungstheorien sind ja auch Mythen. In diesem Fall können wir auch unterschiedlich darüber sprechen: Wenn wir sie diskursiv betrachten, dann nehmen wir an, dahinter steht irgendeine Realität. Wir fürchten uns zum Beispiel tatsächlich vor irgendwelchen Menschen, die uns angeblich bedrohen. Wenn wir es evozierend erklären, sehen wir Verschwörungstheorien als misslungenen Versuch etwas zu erklären, was wir nicht verstehen, oder wir sehen es als Reaktion auf unsere Frustration.

Warum blühen Mythen in unsicheren, turbulenten Zeiten auf?

Es ist zum Teil ein Kompensationsmechanismus. Wenn wir uns in schwierigen Situationen befinden, provoziert das Mythen. Wenn wir mit dem Leben unzufrieden sind, dann brauchen wir Erklärungen dafür.

Brauchen wir Mythen in unserem Leben?

Der Mythos deckt auch andere Dimensionen unserer Existenz. Im Allgemeinen brauchen wir Mythen, um uns zu vervollständigen. Man kann nicht alles auf logisch-rationale Strukturen zurückführen. Wir sind als Menschen nicht eindimensional, sondern wir können wissenschaftlich, poetisch, religiös, metaphysisch und auch mythisch zugleich sein.

Zur Person


Mayya Soboleva studierte Chemie und Philosophie an den Universitäten in Marburg, Nürnberg und St. Petersburg. Im Jahr 2010 habilitierte Mayya Soboleva im Fachgebiet Philosophie an der Philipps-Universität Marburg und arbeitete seitdem dort als Privatdozentin. Seit März 2014 ist sie mit Unterbrechung am Institut für Philosophie an der Universität Klagenfurt tätig.

für ad astra: Katharina Tischler-Banfield