Das Virus und seine ungleichen Auswirkungen

Wir haben es mit SARS-CoV-2 mit einem Virus zu tun, der vor keinen Grenzen Halt macht, dennoch aber global betrachtet ganz unterschiedliche Auswirkungen nach sich zieht. In einer translokalen Vortragsreihe sprechen Geograph*innen über räumliche Ungleichheiten von Covid-19. Wir haben vorab mit einem der Organisator*innen, dem neu an die Universität Klagenfurt berufenen Matthias Naumann, über die Themen der Vortragsreihe gesprochen.

Man liest dieser Tage viele Interviews von Expert*innen zur aktuellen Coronakrise – hauptsächlich mit Virolog*innen, aber auch mit Soziolog*innen, Psycholog*innen, Public-Health-Expert*innen. Ein Geograph ist mir dabei noch nicht untergekommen. Was hat die Geographie zu Covid-19 zu sagen?

Das zentrale Erkenntnisinteresse der Geographie sind räumliche Ungleichheiten und die Frage, wie sich gesellschaftliche Phänomene, wie zum Beispiel Covid-19, an verschiedenen Orten unterschiedlich ausprägen. Das ist das, was uns bei der Vorlesungsreihe interessiert: Wie wirkt sich Covid-19 räumlich und sozial unterschiedlich aus? Wie wird in unterschiedlichen Regionen mit dem Virus umgegangen? Ein Blick in den Globalen Süden zeigt beispielsweise, dass man dort deutlich mehr Erfahrung mit Epidemien hat. Das, was bei uns ein Ausnahmezustand ist, ist für bestimmte Gebiete im Globalen Süden schon länger Normalzustand.

Wir haben ja alle auf dieser Welt im Wesentlichen dieselben Menschenkörper und stehen vor derselben körperlichen Herausforderung. Trotzdem sind die Bedingungen, gut und gesund durch die Pandemie zu kommen, räumlich unterschiedlich. Inwiefern unterscheiden sie sich denn?

Gesundheitssysteme haben – auch im Globalen Norden – in den letzten Jahren einen starken Wandel erfahren. Krankenhausbetten wurden abgebaut, Kliniken privatisiert oder auf Kosteneinsparungen getrimmt. Insofern treffen Körper auf ganz unterschiedliche Bedingungen im Gesundheitssystem. Ein anderer Unterschied liegt in der Umgangsweise der Politik mit der Situation. Wie restriktiv oder liberal, mit welchen Maßnahmen, wird dem Virus politisch begegnet?

Noch vor kurzem waren die Grenzen in der Europäischen Union mehr oder weniger bedeutungslos. Nun kehren wir bei der Bekämpfung der Pandemie in immer kleinere Einheiten, zuletzt auf die Bezirksebene in Österreich, zurück.

Das ist eine widersprüchliche und teilweise auch paradoxe Entwicklung, dass man auf der einen Seite wieder Grenzkontrollen eingeführt hat und sehr genau danach schaut, wie sich die Zahlen in Bundesländern, in Bezirkenoder sogar Stadtbezirken entwickeln. Auf der anderen Seite zeigt uns das Virus ja auch ganz deutlich, dass ihm Grenzen völlig egal sind. Grenzen können das Virus nicht aufhalten. Covid-19 steht also für eine globalisierte, grenzenlos miteinander vernetzte Welt. Wir befinden uns nun in der widersprüchlichen Situation, dass viele Entscheidungsträger bei der Bearbeitung der Krise ganz stark auf Grenzen setzen.

Wie hat sich das Verhältnis von Stadt und Land in den letzten Monaten entwickelt?

Für Geograph*innen ist auch interessant, dass man derzeit in den Medien ja vom Wunsch nach einer „Flucht aus der Großstadt“ lesen kann. Städte sind aktuell stärker vom Virus betroffen. Daher haben Menschen die Hoffnung, dass sie am Land oder einem Dorf mit einer geringeren Bevölkerungsdichte der gefährlichen epidemiologischen Situation entfliehen kann. Ich sehe das skeptisch, denn auch Ischgl ist ein kleiner Ort, der zu einem Superhotspot geworden ist. Trotzdem ist das eine Entwicklung, die dafür steht, dass städtisches Leben zunehmend kritischer wahrgenommen wird, gleichzeitig sind wir aber wirtschaftlich, sozial und kulturell weiterhin auf Großstädte angewiesen.

Inwiefern lernen wir global betrachtet voneinander im Umgang mit der Krise?

Mir kommt ein solidarischer globaler Austausch zu kurz. Momentan bemüht man sich darum, dieses Virus möglichst kurzfristig vor Ort in den Griff zu bekommen. Da sehe ich ein sehr kurzfristiges, räumlich begrenztes Denken. Dabei können wir nur lernen, mit dem Virus zu leben, wenn wir über Grenzen hinweg denken. Da würde ich mir noch mehr gegenseitgen Austausch, Unterstützung und Solidarität wünschen.

Haben Sie Hoffnungen, die Sie mit der Pandemie verbinden?

Ich glaube, es ist realistisch zu hoffen, dass Covid-19 gezeigt hat, dass wir einen starken öffentlichen Gesundheitssektor brauchen. Das bedeutet: einen Gesundheitssektor, der nicht gerade mal so funktioniert, wenn alle Pflegekräfte auf der Station gesund sind, sondern einen Gesundheitssektor, der auch in der Lage ist, mit unvorhergesehenen Ereignissen umzugehen, einen Gesundheitssektor, der vorsorgt für Situationen, in denen wir mehr Medikamente, medizinisches Material und gut ausgebildete – und entsprechend bezahlte – Pflegekräfte brauchen. Ich hoffe, dass wir aus Covid-19 diese Lehren ziehen. Krankenhäuser sollten nicht die primäre Funktion haben, Geld zu verdienen, sondern Menschen gesund zu machen.

Dafür müssten wir auch Produktionsunternehmen nach Europa zurückholen, oder?

Das hängt davon ab, was man möchte: Möchten wir ein Gesundheitssystem, das resilient und gemeinwohlorientiert ist? Oder möchten wir ein Gesundheitssystem, das möglichst höchste Renditeerwartungen erfüllt? Und bei letzterem werden wir weiterhin unsere Medikamente am anderen Ende der Welt herstellen lassen, weil es günstiger ist. Die Folgen hängen ganz wesentlich von dieser Entscheidung ab.

Zur Person



Matthias Naumann studierte Geographie, Soziologie und Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und der University of Illinois, Urbana-Champaign. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) und promovierte 2008 an der Universität Potsdam. Darüber hinaus lehrte Matthias Naumann an der Freien Universität Berlin, der Universität Hamburg und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.

Vor seiner Berufung an die Universität Klagenfurt vertrat er von 2017 bis 2020 die Professur „Didaktik der Geographie“ an der Technischen Universität Dresden. Er forscht zu Fragen von Stadt- und Regionalentwicklung, zur Transformation von Infrastrukturen und Fragen der Politischen Geographie.

Zur translokalen Vortragsreihe



Die Covid-19-Pandemie und die Maßnahmen, die zu ihrer Eindämmung ergriffen wurden, bedeuten eine enorme gesellschaftliche Herausforderung. Damit verbunden sind umfangreiche soziale und räumliche Neuordnungen, deren Ausmaß und Wirkung erst nach und nach deutlich werden. Dies betrifft Naturverhältnisse und Versorgungssysteme ebenso wie Regierungsformen, ökonomische Verflechtungen und sozialräumliche Ungleichheiten. Die Vorlesungsreihe widmet sich den Geographien der Coronakrise anhand unterschiedlicher Fragestellungen: Welche Territorialisierungen und räumliche Strategien spielen bei der Bekämpfung der Pandemie eine Rolle? Welche Effekte haben Praktiken der Eindämmung und der Rekonfiguration von Mobilität? Welche sozial-, sicherheits- und gesundheitspolitischen Bearbeitungsmodi bilden sich in konkreten räumlichen Kontexten heraus, und in welchem Verhältnis stehen sie zu den politischen Antworten auf vorige Krisen? Was können wir aus vergangenen Epidemien vor allem aus Kontexten des sogenannten Globalen Südens lernen? Um die mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen im akademischen Betrieb positiv zu wenden, wird die Vorlesungsreihe in translokaler Zusammenarbeit zwischen den Geographischen Instituten in Bayreuth, Dresden, Jena, Klagenfurt und Münster veranstaltet und richtet sich an die Dozent*innen, Studierende sowie die interessierte Hochschulöffentlichkeit. Fünf interaktive Vorträge, die an den genannten Instituten über eine Konferenzsoftware gestreamt werden, bieten Einblick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Geographien von Covid-19. Weitere Informationen zum Programm unter http://geo.aau.at/images/stories/pdf/Geographien_Covid-19.pdf