Anna Baar – Das Bild

Anna Baar

Das Bild

Das Bild, aufgenommen 1944 im Zeltlager von El Shatt, einem Wüstenort auf der Halbinsel Sinai in Ägypten, nahe der Stadt Suez, zeigt Franka und Antun, meine dalmatinischen Urgroßeltern. Sie und mehr als dreißigtausend dalmatinische Zivilisten, darunter vor allem Angehörige der Partisanen, waren kurz zuvor auf großen Schiffen nach Afrika gebracht worden, um sie vor den Gräueln, so genannten „Strafaktionen“, deutscher Truppen zu schützen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme hatten die beiden fast alles verloren: Zwei Jahre zuvor war ihr bäuerliches Haus am Nordrand eines kleinen Fischerdorfs auf der Insel Brač von den kapitulierenden italienischen Faschisten bis auf die Mauern niedergebrannt worden – als Rache für den erbitterten antifaschistischen Widerstand der Partisanen, den ihr jüngster Sohn, mein späterer Großvater, mit zwei seiner Cousins angezettelt und maßgeblich angeführt hatte. Die beiden älteren Söhne waren in den 1920er Jahren mit einem Tabakbeutel voll karger Heimaterde auf Nimmerwiedersehen nach Argentinien ausgewandert, weil die Reblaus die armen Weinbauern um ihre Lebensgrundlage gebracht hatte.

Franka und Antun kehrten 1946 nach Jugoslawien zurück. Die abenteuerliche Flucht nach El Shatt blieb ihre einzige Reise. Das Elternhaus meines Großvaters steht heute noch als Brandruine am Dorfrand – bewachsen von Kapernbüschen.

Helene Gattereder – Die kleine Hexe Zyclame und das Klassenfoto

Helene Gattereder

Die kleine Hexe Zyclame und das Klassenfoto

 

Sie sitzt in der Sonne, neben dem großen Ameisenhügel, wo die Ameisen geschäftig ihre Fichtennadeln in den Bau schleppen. Das ist ein gutes Zeichen, denn dann bleib das Wetter schön. Das weiß die kleine Hexe Zyclame ganz genau, denn sie kennt sich aus in diesem Wald. Von weitem hört sie den Bach rauschen und die Bienen summen in der Wiese zum Waldrand, wo man im Frühling so viele Maiglöckchen findet. Und die duften genauso wie das kleine Hexlein duftet, wenn es ausgeruht ist. Denn nur dann kann es duften, wie eben Zyklamen duften. Von denen hat sie nämlich ihren Namen.

Sie schließt die Augen, lässt die Sonne auf ihre gesprenkelten Füße scheinen und denkt daran, dass jetzt so wenig Kinder am Bach spielen. Die sitzen jetzt immer mit ihren Eltern in einem Auto und flitzen irgendwohin.

Aber nein, da hört sie Stimmen. Zwei Frauen wandern lachend den sandigen Weg entlang. Die kommen ihr aber bekannt vor, wo hat sie die nur schon einmal gesehen? Und jetzt verlieren sie auch noch etwas. Zyclame huscht schnell hinüber, um es aufzuklauben, im Wald soll man ja nichts wegwerfen, und da sieht sie es. Es sind zwei Klassenfotos. Die sind aber schon alt und Zyclame wird neugierig.

Sie schaut den beiden nach. Ist das nicht die Erika, die immer ihre liebe Not mit ihrer Ziege hatte? Na ja, und barfuß gehen sie ja auch nicht mehr. Sie haben flotte Sportschuhe an und ihre bunten blumigen Röcke flattern fröhlich beim Gehen. Aber wer ist die Zweite? Schnell huscht sie auf die große „Fasslbeerstaude“ die ganz knapp am Weg steht, von da aus kann sie alles ganz genau sehen. Und richtig, jetzt weiß sie es. Es ist die KLEINE. Die Kleine auf dem Foto ganz oben rechts mit den dünnen Zöpfen und dem kritischen Blick. Nur ein Mädchen steht zwischen ihr und der geliebten schönen Lehrerin. Na, viel gewachsen ist die aber in der Zwischenzeit auch nicht, denkt sich das Hexlein, lässt seine gesprenkelten Beine baumeln und duftet, was das Zeug hält. Erika und die Kleine setzen sich genau der „Fasslbeerstaude“ gegenüber, rasten ein bisschen, fühlen die warme Sonne und riechen das Hexlein. Aber sie glauben natürlich, dass da irgendwo eine Zyclame sein muss.  Hören den Bach rauschen, schließen die Augen und sind ganz schnell mit den Gedanken in ihrer Kindheit.

Zyclame muss lächeln. Die sind ja noch genau so fröhlich und spitzbübisch wie als Kinder. Sie macht auch die Augen zu, riecht den heißen Sand auf dem Weg, den Duft der Fichtennadeln vom Ameisenhaufen und dann sieht sie sie, in Gedanken natürlich, die KLEINE.

 

Die „KLEINE“                                                                                                                                                                                                             

Wie sie die Landstraße entlang geht. Der Schotter leuchtet schön hell. Aus den Fenstern der Häuser hört sie die Morgensendung im Radio und weiß ganz genau, wie viel Zeit ihr am Schulweg noch bleibt. Sie holt ihre Freundin Elke ab, geht am Friedhof vorbei durch den Wald, 4 Km zur Schule. Sie kommt bei der Stelle vorbei wo im Sommer, gleich hinter der Mulde, die erste Erdbeere steht. Immer an der gleichen Stelle. Aber heute ist Spätherbst, es ist richtig, die erste Lacke ist mit dünnem Eis überzogen. Das Rutschen geht noch nicht, sonst bricht alles. Aber morgen könnte es gehen.

Und jetzt, der verbotene Gang auf den dicken Eisenröhren, die Wasser in das E-Werk für die Fabrik befördern.

Es ist gerade ein Schuh breit Platz, dass man geradestehen kann. Im Winter ist die Oberfläche nass oder leicht gefroren, da kann man leicht ausrutschen, aber auch super in den tiefen Schnee springen. Die Röhren gehen auch über Gräben und da auf hohen betonierten Stelzen.

Wenn man über die Brücke am Bach geht, kann man die Zunge an die Röhre legen und bleibt solang picken, bis man mit warmer Spucke wieder loskommt.

Der E-Werk-Mann schaut immer streng, aber er lässt uns durchgehen. Ist ja eine tolle Abkürzung, auf dem langen Schulweg.

Manchmal, wenn sie allein unterwegs ist, und er sie sieht, geht er hinter sein Wohnhaus damit sie glaubt, er hat sie nicht gesehen und dann geht sie ganz schnell vorbei. Er passt auf sie auf, ob ihr wohl nichts passiert ist.

Am Werksgelände, durch das man eigentlich nicht gehen darf, liegen Berge von Eisenspiralen, die in öligen Farben glänzen.

Das Holz klauben im Wald ist vorbei, wo sie immer bei bestimmten Bäumen das Harz herunter klaubt und wie Kaugummi kauen kann. Ist gut gegen Hunger.

Die Maikäfersammlung in der Schule ist auch vorbei, wo alles voll mit stinkenden Gefäßen voll Maikäfer war. Aber man hat ein paar Groschen dafür bekommen.

Hoffentlich kommt sie heute beim Juvan vorbei, der sie das letzte Mal abpassen wollte und sie musste sich stundenlang unter einem Baumstamm verstecken. Ihr Herz hat geklopft und sie hat an Glockenblumen gedacht.

Zyclame hat aber den Juvan abgelenkt, damit er sie nicht findet. Sie passt ja immer auf.

Die kleine Hexe Zyclame, mit den zerrupften kurzen Haaren, ihrem kurzen, dunkelroten Rock, den braunen, gesprenkelten Beinen und den flachen Schuhen. Sie wäre ja so gerne so groß und blond und hübsch wie die Fee Felicitas vom Pinocchio. Mit ihrem blauen Sternenkleid.

Aber sie ist dafür wieselflink und riecht so gut. Aber für`s Schönsein hat sie einfach zu viel zu tun. Denn immer muss sie auf die Kleine achtgeben. Ja und wo die Kleine ist, ist ja auch die Erika nicht weit. Das hat sich bei diesen Zweien anscheinend gar nicht geändert.  Auch heute sind sie zusammen unterwegs, und da sind aber inzwischen schon viele Jahre vergangen.

Jetzt huscht die kleine Hexe aber wieder unter das Schneerosenblatt beim Ameisenhaufen. Da ist es ein bissl gemütlicher als auf der stupfigen „Fasslbeerstaude“. Das ist heute aber wirklich ein ganz gemütlicher Sommertag. Sie liebt ja diesen Weg und die Wiese und den Bach. Und freut sich wie ein Schneekönig, obwohl der sich ja im Sommer nicht freuen kann, weil da ist er ja schon lange zerronnen. Aber das ist halt so ein Spruch, der dem Hexlein gut gefällt. Also, sie freut sich, wenn Leute vorbeikommen und fröhlich sind.  Sie legt sich unter ein Schneerosenblatt, da ist es schön schattig, sie macht die Augen zu, weil am besten sieht man ja vergangene Sachen, wenn man die Augen zu hat, und sieht, sieht den Sommer, die Ziege, die „Kotla“ vor sich und dann die

Erika                                                                                                                       

Sie ist ein zartes, lebhaftes Mädchen mit dünnen Zöpfen, einem spitzbübischen Lächeln und einem unbändigen Drang nach Draußen, Abenteuer und Gemeinsamkeit.

Das Haus, in dem sie wohnt, war bis nach dem ersten Weltkrieg eine Produktionsstätte der nahen Metallfabrik. Jetzt ist es das Personalhaus des Werkes, in dem nicht nur ihr Vater, sondern auch der Großteil der männlichen Bevölkerung des kleinen Ortes arbeitet.

Vor dem Haus ist einer der Brunnen des Ortes, hinter dem Haus die Holzhütte mit Brennholz, das man im Sommer im Wald klaubt, mit Kohle, und wenn`s ganz gut geht, etwas Koks. Der gibt am meisten Hitze. Und die Ziege ist auch noch da.

Im 1. Stock wohnt der dünne, große, dunkle Mann mit der spitzen Nase. Im Frühling schickt er die Kinder immer zum Maiglöckchen klauben. Diese trocknet er und verwendet sie dann als halluzinogenen Drogen. Sie weiß zwar noch nicht was das ist und wie das heißt, aber irgendwie komisch kommt es ihr schon vor. Und wenn er sie einmal in die Wohnung lässt, dann ist diese voll mit Vögeln in Käfigen. Sie denkt, er muss ein Vogelfänger sein.

Am Gang haben die Leute ihre Speisekästen, das spart Platz in den kleinen Küchen und es ist schön kühl.

Einmal erwischt sie die Nachbarin beim Würfelzucker stibitzen. Sie klopft ihr auf die Finger und Erika läuft zur Mama beichten, sicherheitshalber. Aber zuerst wird von dem auf den Finger klopfen erzählt, da wiegt dann der Würfelzucker nicht so schwer.

Ihre Mutter ist eine zarte, sanfte, gläubige Frau, die einen Witwer geheiratet hat und seinen Sohn mit viel Nachsicht behandelt, damit nur ja kein schlechter Gedanke aufkommt. Außerdem gibt’s heute Gott sei Dank keinen Ritschert, der ihr wirklich vom Herzen nicht schmeckt und der stinkt. Das darf sie aber nicht sagen, da kann dem Vater schon ganz leicht die Hand ausrutschen. Er ist ein bissl jähzornig, was sich bei ihr auch ab und zu bemerkbar macht.

Den ganzen Sommer über ist sie mit der Ziege in der „Kotla“, dem Schwemmgebiet des Loiblbaches wo im Frühling die Lawinen ins Tal donnern und Geröll mitnehmen. Da bilden sich dann Mulden, in denen das Wasser stehen bleibt. Es ist schön warm und man kann richtig baden. Da hockt man sich nieder, macht ganz schnell zwei schwimmartige Bewegungen mit den Armen, das Gleiche mit den Beinen und eigentlich kann man ja schon schwimmen. Was im Schwimmbad in der Stadt nicht so funktioniert, und wo man sich ganz schnell am Boden Desselben findet und auf allen vieren krabbelnd, die rettende Stufe an die Luft findet.

Die Steine sind heiß, hell und rund, das ideale Gebiet auch für Vipern, die es sich gemütlich machen und wenn

man den Kopf aus dem Tümpel hält und einer solchen gerade ins Auge blickt, ist es dann schon gut, wenn man schreit und die Buben kommen. Die gehen dann mit Stöcken auf die Schlangen los. Manche packen sie auch am Schwanz und werfen sie, wenn`s gut geht, nicht in ihre Richtung. Einer kommt immer mit Blindschleichen daher die er in die Blusen steckt. Sie schreit und läuft weg, muss aber wegen der Ziege doch immer dableiben.

Wenn die Ziege nicht nach Hause will, sie mit den Hörnern umstößt und dann auch noch am Boden entlang rollt, kommen ihr die Buben auch zu Hilfe. Momentan sind aber einige zum Großen der Wasserfälle unterwegs, da kann man schön hinter dem Wasservorhang die Wand entlang auf die andere Seite des Baches klettern. Vom Überlauf aus ist ein Zwischenraum zwischen Wasser und Felsen. Das machen aber nur die Buben.

Jetzt muss die kleine Zyclame ganz schnell den Felsen hinter dem Wasserfall ein bissl trocken- wischen, damit die Buben gut auf die andere Seite hinüberkommen. Wo doch alle gar nicht richtig schwimmen können.

Und dann haben die schon wieder ein paar Patronen, die von den Soldaten beim Rückzug aus dem Krieg in den Wäldern weggeworfen wurden, gefunden. Die werden mit Steinen bearbeitet, mit dem Pulver daraus eine lange Linie gezogen und die wird dann angezündet. Aber da schicken sie Erika immer weg. Was sie immer ein bisssl ärgert, aber Angst hat sie auch.

Am Abend „operiert“ der Vater dann die lädierten Füße der Kinder mit einem skalpellähnlichen Messer, schmiert alles mit selbstgemachter „Lärchensalbe“ ein und am nächsten Tag ist alles gut.

Erika wird später in Klagenfurt die Frauen Berufsschule besuchen und abschließen. Der Vater wird den Baugrund, den er sich und seiner Familie vom Mund abgespart hat, verkaufen, damit Erika die Schule und sein jüngster Sohn Siegfried die Montanuniversität in Leoben besuchen kann. Siegfried wird in Deutschland bei einem großen Konzern ein großer Mann und kommt zu allen Treffen, die jetzt organisiert werden, nach Hause.

Erika wird eine schwierige Ehe eingehen, 3 liebevolle, erfolgreiche Kinder haben, in der Welt herumreisen, und die gleiche fröhliche, spitzbübische, schmale, sanfte Person bleiben.

Die kleine Hexe Zyclame war wahrscheinlich gerade auf Urlaub, als sich Erika ihren Lebenspartner ausgesucht hatte. Und dann war`s halt zu spät

 

Zyclame nimmt wieder das Foto in die Hand. Sie ist heute aber besonders neugierig. Wer ist denn bloß das hübsche Mädchen in dem weißen Kleid, den blonden Haaren und dem geraden furchtlosen Blick. So viele Gedanken kommen ihr in den Sinn, und dann freut sie sich, dass sie die DAGMAR erkennt. Dagmar mit ihren dicken Zöpfen. Was wohl aus ihr geworden ist? Sie hat sie ein bisschen aus den Augen verloren, weil sie nicht so viel auf sie aufpassen musste. Sie war ja eine Brave.

 

Dagmar

Diesmal hat sie den Hund zu Hause gelassen, genießt die warme Märzsonne und geht zu Fuß in die Innenstadt, um sich noch schnell ein Puzzlespiel für ihr Enkelkind zu besorgen, bevor sie morgen nach Heiligen Blut fährt, um die letzten schönen Wintertage mit Familie, Schnee, Schi fahren und Freunden zu verbringen.

Plötzlich ein Lärm, zwei Männer rempeln sie an.  Ein rasender Schmerz in der Kniekehle. Sie bleibt stehen, kann sich nicht bewegen, wie eine automatische Puppe, der man den Stecker aus der Dose gezogen hat. Der Splitter einer Glasscheibe, die beim Tumult zerbrochen ist, hat ihr die Sehnen in der Kniekehle durchtrennt.

Während des anschließenden Krankenhausaufenthaltes mit unzähligen Operationen am Bein, und dem mühsamen „wieder Gehen lernen“, fällt er ihr wieder ein.

Dieser mühsame Schulweg im Winter in die 4 km entfernte Schule. Die Schichtarbeiter aus der Fabrik, die in der Morgenschicht um 6.00Uhr hintereinander den langen Weg stapfen, damit ihre Kinder, wenn sie zur Schule gehen, eine Spur haben. Der Schneepflug kam ja erst spät ins Dorf.

Der Vater ist auch dabei. Der Vater, der im gerade erst zu Ende gegangenen Krieg als vielleicht gefürchteter Zöllner beschäftigt war und jetzt froh ist, die Arbeit als Stahlarbeiter zu haben.

In dem Dorf, wo sie beim Schlafengehen und Aufwachen die Berge vor der Nase hat, wo es still ist, am Tag dreimal der Bus in die hinterste Talecke fährt. Und ansonsten nur einer der Zöllner eine Beiwagenmaschine hat. Die anderen müssen die Strecke zum Grenzpass zu Fuß gehen. Auch als Kontrolle. Da finden sie dann im Winter die abgestürzten Flüchtlinge, die mit Akias auf Schiern an den Kindern vorbei, in die Bezirksstadt gebracht werden. Eigentlich sollten die Kinder das ja nicht sehen, aber irgendjemand weiß immer, wann die vorbeikommen.

Im Frühling hört sie dann die Lawinen, die in die Schlucht donnern, den Bach, der dann anschwillt und stärker als sonst rauscht und das Rauschen der Bäume. Das ist ihr „Zu Hause“ und es wird ihr später im Leben immer abgehen.

Der weiche Vater, der seine zwei Töchter niemals straft. Dafür ist sie, die strenge schöne Mutter zuständig. Und zu ihrer Unterstützung hat der Vater am Esstisch immer den „Spanischen“, eine Rute aus einem Pracker, liegen.

Die Prügelei ihrer Mutter mit einer Liebschaft ihres Vaters, die nicht ohne Folgen geblieben ist. Diese Szenen treffen sie so sehr, dass sie zeitlebens auf Harmonie bedacht ist, und ihr Streit aus tiefstem Herzen zu wieder sein wird.

Sie wird die Hauptschule besuchen, dann jeden Tag zu Fuß in die Bezirksstadt gehen, sich in den Bus setzen und in der Landeshauptstadt die Handelsschule besuchen. Sie ist keine glänzende Schülerin und wird bei der Abschlussprüfung, nachdem sie merkt, dass die Noten nicht so gewaltig sind den Prüfer mit den Worten: „Wenn i durchfoll, geh i in die Drau“ unter Druck setzen. Es hat geklappt.

Nach einem Jahr Bürotätigkeit geht sie als Au Pair nach England. Das Heimweh plagt sie so sehr, dass sie glaubt sterben zu müssen.

Sie lebt bis zu ihrem 23. Lebensjahr bei ihren Eltern in der kleinen Wohnung, bis sie ihre Liebe kennenlernt. Heiratet in den Betrieb ihres Mannes ein, bekommt 2 Kinder und arbeitet im Betrieb mit. Und nur mit der Schwiegermutter haperts am Anfang ein bissl. Da vergisst sie zwei Mal ihre Harmoniesucht und dann ist alles gut.

Sie ist in der ganzen Welt unterwegs, lebt in einer Villa in vornehmer Wohngegend und ist das geblieben was sie war. Ein sanftes, fröhliches, hübsches Mädchen mit dicken Zöpfen und einem geraden, furchtlosen Blick.

Ihr Fuß wird nie mehr ganz heilen, sie wird nie mehr ohne Schmerzen sein, und doch wird sie dem verwirrten jungen Mann, der dafür verantwortlich ist, nicht böse sein.

 

Na, und wer ist da noch zu sehen? Das „Lausdirndle“! Heute kommt die kleine Zyclame aus dem Lächeln gar nicht mehr heraus. Die hat sie wirklich auf Trab gehalten. Ihr Balancieren über den Dächern, nein, da ist sie heute noch erschrocken.  Dann erst der Ringelspielausflug. Das hat sie ja schon vergessen, und jetzt gruselt es sie direkt ein bisschen. Aber sie hat alles geschafft und zu gerne möchte sie wissen, was aus dem Kind geworden ist. Sie kann ja, wie alle Hexlein, nicht aus ihrem Bereich heraus, und das „Lausdirndle“ ist dann ja schon bald nicht mehr da gewesen. Aber vielleicht kommt auch die einmal hier vorbei, wie jetzt Erika mit der Dagmar.

Und sie denkt ganz fest ans:

 

„Lausdirndle“

Die Heli, die schon wieder auf dem Straßengeländer balanciert, von dem man vom oberen Ortsteil auf den unteren hinunterschauen kann, bis auf die Dächer und die Balkone der Häuser. Nie kann sie ordentlich gehen. Zyclame bläst schnell jedes Stäubchen von Geländer, sodass die Füße ja nichts Spitzes spüren. Dieses Kind hängt im Apfelbaum, mit den Kniekehlen an einem Ast hängend, schaukelt wie ein Leintuch im Wind, oder steht beim Ringelspielfahren im Sitz auf, weil man da den Wind besser spürt. Und der Ringelspielbesitzer weiß nicht, wie er dieses abstellen soll, ohne dass was passiert. Aber sie sitzt eh schon wieder, weil alle Leute so gestikulieren. Eigentlich sollte ja ihre ältere Schwester auf sie aufpassen, aber die ist gerade dabei ihre Weiblichkeit zu entdecken, schäkert mit den Burschen und da stört die kleine Schwester. Und dann gibt`s Zores.

Ja, ihre große Schwester ist schon so ein eigenes Kapitel. Die hat das Dirndl noch im Kinderwagen über eine Wiese in den Fluss rollen lassen, damit sie endlich nicht mehr da ist. Weil alle Leute immer so ein blödes lächelndes Gesicht gemacht haben und sie so hübsch fanden. Aber Zyclame hat sich schnell einem englischen Soldaten, der gerade in der Nähe war, auf die Schulter gesetzt und ganz laut gerufen: “ Lauf, lauf !!“ und da hat er sie dann aus dem Wasser gefischt. Er hat sich noch gewundert, warum er ein Rufen gehört hat, wo er doch niemanden gesehen hat. Aber das ist halt so mit den Hexlein. Eigentlich kann man sie gar nicht sehen. Unsere kann man aber riechen. Und für die Schwester gab es dann erst recht wieder Zores, als der Soldat das „Dirndle“ zu Hause abgeliefert hat.

Oder wie sie die Kleine im großen Theatersaal, der an das Wohnhaus angebaut war, einmal aufgebahrt hat. Auf der Bühne, mit Kerzen und allem Drum und Dran. Das „Dirndle“ durfte sich nicht rühren, sie war ja tot. Und eigentlich hatte sie nichts dagegen, weil das war ja wie Theater spielen. Dann ist aber eine Kerze umgefallen, alles hat angefangen zu brennen, die Schwester ist weggelaufen und die anderen Kinder auch. Das „Dirndle“ konnte sich vor lauter Angst auch nicht rühren. Gott sei Dank ist ein Zöllner vorbeigekommen und eines der Kinder hat ihn um Hilfe gebeten. Der hat sie dann herausgeholt und alles war gut.

Wie die Schwester dann aber eines Tages alle Geschwister, auf die sie aufpassen sollte, einfach im Wald abgesetzt hat, fast wie bei Hänsel und Gretel, war es dann doch genug. Sie wollte den neuen jungen Kaplan in der Bezirksstadt becircen.

Die Kinder saßen den ganzen Nachmittag am selben Platz, sie sollten ja nicht weggehen. Und gegen Abend, als es schon langsam finster wurde haben sie sich überlegt, ob sie nicht diesen dünnen Baum, den man bis zum Boden biegen konnte, als Schleuder benutzen könnten. Bis in den Himmel zu den Sternen, die schon begonnen hatten zu leuchten. Aber keiner traute sich. Weil, wenn es gelingt, wie kommt man wieder zurück? Dann war aber auf einmal ganz großer Lärm, Fackeln und Lichter im Wald, Leute haben gerufen und alles war wieder gut.

Die Schwester kam dann in ein katholisches Erziehungsheim. Das hat aber nicht viel geholfen. Sie ist ein ganzes Leben lang schwierig gewesen und früh gestorben.

Ab diesem Augenblick aber hat die kleine Zyclame wirklich ganz besonders auf das „Lausdirndle“ aufgepasst. Und da hatte sie immer noch genug zu tun.

Nur wenn das „Dirndle“ seine Nase in einem Buch hat, nicht sieht, rein gar nichts hört und so, oft in einer anderen Welt ist, dann geht’s auch dem kleinen Hexlein gut.

Geschafft, alles gut, die kleine Zyklame kann sich ausruhen. Denn nur wenn sie ausgeruht ist kann sie auch duften. Zyclamenduft ist der schönste Duft, den man sich vorstellen kann. Wie Sonne,

süßer als Zucker, blau wie der Himmel und weiß wie heiße runde Steine. Jetzt kann sie die Sonne genießen, den Ameisen zusehen, und ab und zu mit den Fischen reden. Die kommen ganz hinten aus der Schlucht heraus, flitzen bis in den großen Fluss, der ganz weit unten vorbei rinnt und erzählen die wunderlichsten Dinge von ihrer Reise.

 

Elke

Elke ist ein verzogenes arrogantes Kind mit einem abweisenden kritischen Blick, blonden Zöpfen, die immer mit einer schönen breiten Masche zusammengehalten werden, und schön gebügelten Rüschenkleidern, die niemals schmutzig sind. Sie lebt während und auch noch nach dem Krieg bei ihrer Großmutter und einem jungen Mann in dem kleinen Ort. Die Mutter ist mit einem Deutschen verheiratet und lebt auch dort. Dieser junge Mann wird von ihr „Onki“ gerufen und besucht noch die HTL in der Bezirksstadt. Jeden Morgen holt die Kleine sie zu Hause ab. Sie muss sich aber tummeln, sonst ist Elke weg. Die wartet nicht auf sie. Und nur wenn Elke eventuell ihr Taschentuch zu Hause vergessen hat, dann holt ihre Oma sie herein. Aber sie muss immer in der Türe stehen bleiben, darf nie in den Raum hinein wo in der Mitte ein großer Esstisch steht. Auf einem richtigen Teppich!! An der gegenüberliegenden Wand ein Sofa, auf dem der ganzen Länge nach Puppen sitzen. Eine ganze Reihe voller Puppen. Und nie darf sie eine angreifen. Die Oma ist eine große, dunkle, strenge Frau. Die Kleine fühlt sich nicht wohl in ihrer Nähe.

Hinter dem Haus ist ein alter Holzstadel auf dessen Stiegen die Kinder bei Regenwetter sitzen und spielen. Mit ihren Holz- und Stoffpuppen. Elke hat ihre Schönen, natürlich nicht mit.

Anschließend ans Haus gibt’s eine große Wiese mit Obstbäumen, abgegrenzt zur Straße mit einer dichten Hecke. Hinter der kann man immer lauern und auf den Bäcker warten, der von seiner Brotausfuhr am frühen Nachmittag mit seinem Pferdewagen zurückkommt. Dann kann man ganz schnell hinter der Hecke hervor, auf die Deichsel und von dort in den Wagen springen, so dass der Kutscher das nicht merkt, denn das ist ja nicht erlaubt. Aber einer ist sehr nett und tut so, als ob er uns nicht sehen würde. Dann kann man bis kurz vor die Bäckerei mitfahren und auf die gleiche Weise wieder abspringen. Denn beim Kaiserriegel muss der Kutscher absteigen, und die Bremsen anziehen. Dann ist man aber eh schon wieder weg.

Einmal hat die Elke das auch machen wollen. Die Kleine rennt los, auf die Deichsel, auf den Wagen. Aber die sture Elke ist nicht so geschickt, rutscht schon von der Deichsel ab, das Pferd rennt, Elke schleift auf der unbefestigten Straße mit den Knien, die Kleine schreit: „Lass aus, lass aus…!!“. Aber die Elke ist ein bissl dumm und lässt nicht aus. Bis der Kutscher endlich ihr Schreien hört und stehen bleibt. Schuld war dann aber die Kleine und durfte sie nicht mehr zur Schule abholen kommen. Das hat der Elke aber nichts ausgemacht, die hat dann eben die Ida abgeholt. Ida war die einzige in der Klasse, die noch kleiner als die Kleine war. Und das war schon was für die Kleine, nicht die Letzte in der Reihe im Turnsaal zu sein.

Einmal ist die Elke am Schulweg auf den Röhren bei der vereisten Brücke ausgerutscht und in den darunterliegenden Bach gefallen. Auf den Rücken. Der „Schulpack“ hat aber den Aufprall gedämmt. Und dann hat sie überall erzählt, dass sie Engel gesehen hat, die sie getragen haben. Aber das hat ihr die Kleine nicht geglaubt. Denn als sie einmal von der Brücke in den tiefen Schnee gesprungen ist, wäre sie erstickt, wenn die anderen Kinder nicht den E-Werk-Mann geholt hätten. Und von Engeln war da keine Spur.

Elke ist dann bald zu ihrer Mutter nach Deutschland. Aber vorher hat sie die Kleine noch dazu verleitet im nächsten Ort, wohin ihre Mutter sie zum Broteinkaufen geschickt hatte statt dem Brot, was eh ausgegangen war, 1/8 Zucker mitzunehmen. Auf die Bemerkung der Händlerin, die Mutter hätte eh schon alle Marken aufgebraucht, wurde dann gemeinsam behauptet: „Aber sie braucht das einfach noch.“ Die Kleine konnte jetzt ja nicht mehr zurück. Auf dem 1km langen nach Hause Weg wollte Elke Zucker schlecken, was aber nach Meinung der Kleinen ja nicht geht, weil man ja das Sackerl nicht wieder so schön zusammenlegen kann. Aber Elke fand den Vorschlag mit einem kleinen Loch im Sackerl nicht so schlecht. Aber das Loch wurde mit jedem Schlecker nasser und größer und da blieb halt nur der Weg durch den Wald, damit man nicht gesehen wird. Am Ende war beiden ziemlich schlecht geworden von so viel Zucker. Bei der nächsten Fassung (dem monatlich größeren Einkauf), kam alles ans Licht. Wieder „Elkeverbot “. Die Kleine sitzt tagelang auf der Stiege vor dem Haus und wartet auf Elke.

Die aber geht weit am unteren Rand der Wiese vorbei und schaut nicht einmal herauf. Obwohl das ja eh keiner sehen kann und sie wenigstens ein bissl winken hätte können.

Elke wird bald zu ihrer Mutter nach Deutschland ziehen, dort die Schule besuchen und sich nie bei jemandem im Dorf melden.

Bei einem der Treffen, die dann später regelmäßig im Ort organisiert werden, wird sie der „Kleinen“ gegenübersitzen und so tun, als würde sie sich nicht an sie erinnern. Und die jetzt selbstsichere große „Kleine“ wird sich denken: „Gott sei Dank bin ich nicht so geworden wie sie“. Eine steife, abweisende Person, hinter der man das kleinbürgerliche Reihenhaus sehen kann, und sicher steht sie am Zaun und nimmt den Kindern den Ball weg, wenn er zu ihr hinüberrollt.

Sie tauscht mit der Kleinen ihre Visitenkarte aus, was der ganz gut gefällt, weil sie die Schönere hat. Karton, künstlerisch bedruckt und Elke hat nur ein billiges Aufkleber Etikett. Sie hat kein Interesse als Erste zu schreiben.

Beim nächsten Treffen, zwei Jahre später, kommt Elke nicht mehr. Sie ist in der Zwischenzeit gestorben.

 

Später einmal denkt sich die „Kleine“. Vielleicht war Elke krank, vielleicht hatte sie eine dieser Alterskrankheiten und konnte sich deshalb nicht mehr erinnern. Aber sie kann jetzt niemanden mehr fragen. Auch ihr „Onki“ ist in der Zwischenzeit verstorben.

 

Klassenfoto    7. Schulstufe „Lausdirndle“

Sie ist ein hübsches, fröhliches Mädchen geworden. Jetzt geht sie in Viktring in die Schule. Nicht mehr als 1km von dem Bauern entfernt, wo ihre Mutter sie jedes Jahr wo anders am Anfang der Ferien deponiert hatte. Wer will schon fremde Kinder durch den Sommer füttern. Obwohl sie ja immer arbeiten musste. Kühe halten, auch bei Gewitter mit Blitz und Donner. Wo sie dann unter einem Baum sitzt und weint. Pferde einspannen und aufs Feld führen, wo die „Vieher“ doch so groß sind. Holz sammeln, Garben schleppen. Da wurde ja noch mit der Sense und der Sichel gearbeitet. Beim letzten Bauern hatte ihre Mutter sie einfach nicht mehr abgeholt.

Aber sie fühlt sich gut bei den Leuten, lacht wieder mehr und der Schulweg führt immer an zwei Teichen vorbei. Da riecht sie das Laub, sieht den Fischen zu, freut sich im Frühling an den hell leuchtenden Blättern der Buchen.

Ein bisschen ist sie in den Lehrer verliebt. Er ist jung, ihm fehlt ein Finger. Den hat er sich in der Gefangenschaft abgehackt, damit er ins Lazarett kommt, sonst wäre er erfroren.

Im Singunterricht spiel er Harmonium, ganz schlecht. Später, als er in Pension ist, wird er ihr erzählen, dass sie ihn ausgebessert hat: „Herr Lehrer, das ist falsch, das geht so“, hat sie gesagt, aber er hat es nicht als frech empfunden.

17 Buben und 8 Mädchen gehen in diese Klasse und alle schauen fröhlich drein. Lehrer Lampe wird ihr später am Hochstuhl das Du–Wort antragen. Günther wird wohl später einmal nicht mehr so viel spucken. Gertrude wird mit ihrem Mann in Wien eine Jugendherberge leiten und sie werden sich öfter sehen. Gertrude, sie ist ein wenig „fein“ geworden.

Rudi das Rechengenie, wird Unternehmer und sie werden sich fünfzig Jahre später immer noch jedes zweite Jahr treffen, weil sie für Fredi, der nach Kanada ausgewandert ist, immer ein Treffen organisieren wird. Sie wird ihn und seine Familie dort besuchen und drei wunderschöne Wochen verbringen.

Franz, zweite Reihe Mitte, wird ihr Schwager.

Sie wird jung heiraten, zwei erfolgreiche Kinder haben und erst spät ihr eigenes Leben führen können. Sie wird, wie sie meint, wohl als älteste Schauspielschülerin, die jemals die Prüfung abgelegt hat, in Wien auch bestehen. Sie wird sich endlich mit Gesang, Literatur und Musik beschäftigen können. Am städtischen Theater und an einer renommierten Bühne angestellt sein, kleine Filmrollen haben, ein eigenes  Theaterstück (das auch jahrelang an Schulen gespielt wird) schreiben und wird als einzige „Alte“ an der Musikschule aufgenommen werden um steirische Harmonika zu lernen. Die hat sie von ihrem Vater geerbt und es tut ihr leid, um das schöne Stück. Aber sie tanzt lieber selber, als den anderen dabei zuzusehen.

Sie kommt viel in der Welt herum, und bis auf Australien wird sie jeden Kontinent bereisen.

Taekwondo, ein asiatischer Kampfsport, wird ihr Lebenselixier.

Und sie hat das gute Gefühl, dass ihre Enkelkinder sie bewundern.

 

Jetzt geht es ihr gut und endlich kann die kleine Hexe sich ausruhen und duften. Weil hier ist sie nicht mehr zuständig.

Walter Fanta – Das Haus.

Walter Fanta

Das Haus

auf diesem Schwarz-Weiß-Bild bildet die Fassade für einen Moment aus der Mitte der 1960er. Etwas ist sichtbar, sehr vieles unsichtbar, was zu diesem Bild gehört und erzählbar wäre. Viele und lange Geschichten erregt das Bild, die mit dem Haus Münzgrabenstraße Nr. 114 zusammenhängen und den Menschen, die es bewohnt haben und bewohnen. Zwei von ihnen sind auf dem Bild sichtbar.
Das hübsche Mädchen in der Mitte mit den Zöpfen, mit dem Teddybären und der Trachtenjacke in den Händen, das ist meine Schwester Maria. Sie lächelt sehr freundlich in die Kamera, das tut sie heute noch gern. Ihr gehört jetzt das ganze Haus. Als Dank dafür, dass sie auf die Großtante schaute.
Die immer schwarz gekleidete und immer schlohweiße Tante Steffi wohnte damals in dem Haus, ihr Vater hatte es 1903 gekauft. Im Dachboden gibt es Kisten mit Dokumenten von diesem Urahnen, zusammen mit Marias Erinnerungen, daraunter auch denen aus ursprünglich Tante Steffis Mund, erzählen sie über das Haus die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts. Von Ausbeutung, Krieg, Überleben.
Die Tante Steffi auf dem Bild ist schon alt, sie ist in unseren Erinnerungen immer schon alt gewesen. Doch starb sie erst dreißig Jahre später in dem Haus. Die Großtante schaut nicht her, ihr Gesicht mit den wulstigen Lippen und den Brillen ist ganz dem Mädchen zugewandt, mit ihrem krummen Finger kratzt sie seinen Arm oder den Bauch des Teddys. Der war vielleicht ihr Geschenk.
Der Bub am Bild bin ich. Er schaut eher trotzig in die Kamera. Die Mundstellung deute ich heute als abweisend. Die Wolljacke – welche Farbe? ich erinnere mich nicht – ist gut zugeknöpft, auch der Hemdkragen bis obenhin. Auch die Schachtel unter dem Arm erzeugt einen Abstand. Wahrscheinlich war da mein Geschenk drin. Tante Steffi wurde dann später meine Firmpatin. Aufgezwungen, ich mochte diese Tante nicht, sie war mir unangenehm, unheimlich. Ich wollte mit ihr, mit dem Haus nichts zu tun haben. Hatte dann später auch nichts damit zu tun.
Als Volksschulkinder damals waren Maria und ich ein Pärchen. Nur vierzehn Monate treffen uns im Alter. Meine ersten Freundinnen bekam ich später von ihr. Als sie mit zwanzig zu Tante Steffi in das Haus in Graz zog, war das einer der Schritte der Trennung.
Mir fällt auf, dass die Tür des Hauses offen ist. Wir werden in den VW Käfer steigen (ganz links am Bildrand) und nach Villach fahren. Tante Steffi wird winken und dann gleich durch die offene Tür hineingehen und sich die steile, schmale Stiege hinaufschleppen.
Der unsichtbare Fotograf ist unser Vater. Er ist in dem Haus geboren. Eine dramatische Sturzgeburt auf der steilen, schmalen Stiege am 5. Februar 1931. Tante Steffi war dabei. Warum erzählt sie, dass Onkel Julius sein kleines Brüderchen, als er es in Blut und Schleim erblickte, gleich entsorgen wollte? Das ist eine der finsteren Geschichten, zu denen es keine Bilder gibt.

Lena Leitner – Die Taufe.

Lena Leitner

Die Taufe

 

Auf dem Foto sieht man zwei Mädchen, beschützt von ihrem Vater und ihrer Mutter. Die jüngere Tochter wird heute getauft, es ist meine Mutter. Ihr Name wird Maria sein. Ihr ganzer Name, Maria Schmidt, sie ist die dritte Generation von Mädchen, die diesen Vor- und Familiennamen tragen.

Die erste war meine Urgroßmutter, Maria Schmidt, dann meine Großmutter, die auch Maria Schmidt hieß, und nun wird auch dieses kleine Mädchen, meine Mutter, diesen Namen ebenfalls bekommen. Die Taufe fängt um 13:30 im Stephansdom an. Nach der Taufe wird es im Innenhof meiner Großeltern ein lustiges Fest geben.

Meine Großmutter hat überhaupt keine Ahnung was sie anziehen soll. Sie steht vor dem Spiegel, doch nichts fällt ihr ein. Schließlich entscheidet sie sich für eine graue Bluse und eine Perlenkette, nobel nobel. Ihre Töchtern ziehen weiße Kleider und ihr Ehemann einen dunklen Anzug an.

Es ist 13:00, alle sind aufgeregt. Nur noch dreißig Minuten. Meine Großeltern, ihre Töchter und ein paar Gäste werden von einem bunten Bus zum Stephansdom gebracht.

Die erste Maria Schmidt, meine Urgroßmutter ist auf dem Bild nicht sichtbar, sie lebt bei Ihrem Sohn, meinem Großvater. Ihre Traurigkeit ist immer spürbar. Sie war Jüdin, ist knapp den Nazis entkommen, hat zwar überlebt, aber viele Familienmitglieder und Freunde verloren. Sie ist fast immer still und entzogen. Meine Großmutter, die zweite Maria Schmidt, ist auf dem Foto erkennbar, sie wird eine unpolitische, manchmal lustige aber oft sehr schwierige Mutter.

Meine Großeltern haben meine Mutter zum Taufbecken begleitet. Das kleine Mädchen strahlte wie die Sonne. Alle in der Kirche standen auf um Respekt und Ehrfurcht zu zeigen. Die Taufe dauerte ungefähr eine halbe Stunde, nach der Taufe gab es ein Fotoshooting und dann fuhren alle zum Haus meiner Großeltern. Es ist ein schöner und angenehmer aber auch stressiger Sonntag für meine Großeltern.

Sie besitzen eine Bäckerei und Konditorei, dadurch ist es viel leichter für sie Essen zu organisieren und ein tolles Buffet aufzubauen. Im Innenhof standen zwei lange Tische mit weißen Tischtüchern, dekoriert mit Blumen und Obst.

Die Erwachsenen und die Kinder hatten jeweils einen eigenen Tisch damit zwischen allen Kontakt und Freude entstehen kann. Es ist 15.08, alle genießen das Fest. Für die Kinder wurden lustige Spiele vorbereitet und die Erwachsenen konnten in Ruhe

ihre schönen, brillanten und langen Gespräche führen. Es ist Abend geworden, die Gäste haben sich verabschiedet, und alle fanden die Taufe und das Fest wunderbar. Am Ende dieser Feier entstand auch das beigelegte Foto mit meiner Mutter.

Ich bin die vierte Frauengeneration die den Namen Maria Schmidt übernehmen sollte. Meine Mutter hat jedoch entschieden, dass diese Namenstradition unterbrochen wird und ich nicht Maria Schmidt heißen soll.