Bildungschancen von Jugendlichen in Betreuungseinrichtungen

Rund 11.000 Kinder und Jugendliche leben in Österreich zumindest zeitweise in institutionellen Betreuungseinrichtungen wie SOS-Kinderdorf, Jugendwohngemeinschaften oder betreutes Wohnen und verlassen diese, wenn sie ca. 18 Jahre alt sind bzw. die Schule oder Ausbildung abgeschlossen haben. Care Leaver – wie diese Gruppe von Heranwachsenden genannt wird – stehen nun im Mittelpunkt einer Studie am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung.

Viele junge Erwachsene, die eine Zeit ihres Aufwachsens in Betreuungseinrichtungen verbracht haben, müssen von der Einrichtung direkt in ein eigenständiges Leben wechseln. Sie kehren meist nicht wieder zu ihrer ursprünglichen Familie zurück und müssen ihr Leben alleine meistern. „Wir möchten einerseits stabile Vergleichsdaten für Care Leaver in Bezug auf ihre Bildungschancen und -verläufe erheben und andererseits herausfinden, was es braucht, damit diese Gruppe besser unterstützt werden kann“, schildert Stephan Sting die Ziele des Projekts.

Viele Care Leaver, so Sting, leben in schwierigen Situationen, da die Unterstützung radikal abbricht, wenn die jungen Erwachsenen die Betreuungseinrichtungen verlassen. „In Österreich gibt es keine weiteren spezifischen Unterstützungsmaßnahmen, was viele Betroffene vor große Herausforderungen stellt. Viele scheitern auch.“ Die Gründe, warum sie scheitern, sind vielfältig. In vielen Fällen gehen die familiären Belastungen mit psychischen Problemen einher, was wiederum verhindert, dass sie sich auf die Schule konzentrieren. Einrichtungswechsel haben oft Schulwechsel zur Folge, was dann ebenfalls den Erfolg in der Schule erschwert.

Das Forschungsteam interessiert sich aber auch vor allem für jene Menschen, denen es trotz allem gelingt, Erfolg in der Schule oder im Beruf zu haben. Daraus können unterstützende Maßnahmen für jene mit größeren Schwierigkeiten abgeleitet werden. So zeigt beispielsweise der Fall eines jungen Mannes, welche unterstützenden Konstellationen es geben kann. Er hat früh die Familie verlassen und war immer wieder in unterschiedlichen Einrichtungen untergebracht. Jedoch hat er die ganze Gymnasialzeit in derselben Schule verbracht. Freundeskreis und Lehrkräfte haben ihn unterstützt, und so hat die Schule ein stabilisierendes und kontinuitätssicherndes Umfeld geschaffen, das es in der Familie und den Unterbringungseinrichtungen nicht gab.

Interviews mit Care Leavern sollen Aufschluss darüber geben, was sie rückblickend nach Verlassen der Einrichtung unterstützt und was sie blockiert hat. Anhand dessen erstellt das Forschungsteam differenzierte Fallstudien zu den Einzelfällen. Bei einer weiteren repräsentativen Befragung unter 300 bis 500 Care Leavern sollen Vergleiche mit gleichaltrigen Personen hinsichtlich ihrer Bildungsbiografien gezogen werden.

Bei den bis dato durchgeführten Pre-Tests hat sich gezeigt, dass die Bildungsverläufe sehr unterschiedlich sind. Das liegt auch daran, dass die jeweiligen Einrichtungen die Jugendlichen unterschiedlich gut unterstützen. Sie bemühen sich, dass die Schule abgeschlossen oder eine Ausbildung angefangen wird. Meist streben die Einrichtungen aber eine mittlere Qualifikation für ihre Schützlinge an, damit sie nach dem Leben in der Einrichtung zügig Geld verdienen und auf eigenen Beinen stehen können. Personen mit höheren Bildungsambitionen fühlen sich laut Studien schlechter unterstützt und müssen sich oftmals gegen die Empfehlung der Einrichtung für ein Studium entscheiden.

„Bildungswege werden generell immer länger. Ein ‚normaler‘ Lehrabschluss ist heute weniger wert als vor 20 oder 30 Jahren, d. h. das Modell einer schnellen Berufsausbildung mit Übergang in den Beruf ist nicht mehr zeitgemäß und passend. Dadurch brechen gerade Care Leaver die Lehre häufig ab, weil sie merken, dass sie am Arbeitsmarkt ohnedies abgehängt werden“, erläutert Sting. Internationale Studien belegen, dass Care Leaver beim Erreichen von formalen Bildungsabschlüssen schlecht abschneiden. In England beginnen nur sechs Prozent dieser Personengruppe ein Studium, während bei den Gleichaltrigen über 30 Prozent studieren. „Sieht man sich die Bildungsverläufe an, erkennt man, dass sie deutlich benachteiligt sind. Viele haben niedrige Schulabschlüsse oder gar keine. Sie zählen zu den sogenannten NEETs – not in education, employment or training.“

Eine Herausforderung für die Forscherinnen und Forscher liegt darin, überhaupt an diese Gruppe von jungen Menschen heranzukommen. „Wir versuchen über diverse Einrichtungen mögliche StudienteilnehmerInnen zu finden. Einige Institutionen veranstalten informelle Stammtische für Ehemalige, wo wir Betroffene persönlich ansprechen können. Kontaktdaten dürfen die Einrichtungen natürlich nicht an uns weitergeben“, so Sting. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass die Träger die Personen direkt anschreiben und sie auf die Studie aufmerksam machen. In beiden Fällen werden allerdings nur jene erreicht, die noch in gutem Kontakt mit den Institutionen stehen. Ein weiterer Weg führt über Streetworker, Notschlafstellen und persönliche Kontakte.

Warum diese Gruppe bislang wenig beforscht wurde, erklärt Stephan Sting so: „Von politischer Seite gab es bis jetzt offensichtlich kein Interesse, genauere Informationen zu bekommen. Solange die Jugendlichen in einer Einrichtung untergebracht sind, solange ist diese zuständig. Danach ist allerdings niemand mehr für sie verantwortlich.“ Das Widersprüchliche daran ist, dass das Aufwachsen in Betreuungseinrichtungen sehr kostenintensiv ist und viel Geld investiert wird, nach Verlassen der Einrichtungen aber nichts unternommen wird, um die jungen Erwachsenen weiter auf ihrem (Aus-)Bildungsweg zu unterstützen.

für ad astra: Katharina Tischler-Banfield

Zur Person

Seit 2005 ist Stephan Sting als Universitätsprofessor für Sozial- und Integrationspädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der AAU tätig. Sein Forschungsinteresse gilt den Bereichen sozialpädagogische Bildungsforschung, Sozialpädagogik im Kindes- und Jugendalter, soziale Arbeit und Gesundheit sowie Suchtprävention.

Stephan Sting | Foto: aau/Tischler-Banfield

Zum Projekt

Bildungschancen und Einfluss sozialer Kontextbedingungen auf Bildungsbiographien von Care Leavern

  • Laufzeit: Frühjahr 2016 bis Herbst 2017
  • Kooperationspartner: SOS-Kinderdorf, Pro Juventute sowie Dachverband der Österreichischen Jugendhilfeeinrichtungen (DÖJ)
  • Förderprogramm: Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB)